Zeit der Gamechanger – Intro
Lesezeit: ca. 20 Min.Zeit der GamechangerNoch nie waren Kreativdenker so wichtig wie heute.
Schlankere Strukturen. Erprobte Routinen. Etablierte Prozesse. Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren im großen Stil investiert, um Wirtschaftlichkeit und Produktivität zu steigern. Organisationen wurden darauf ausgerichtet, reibungslos zu funktionieren und alle Störfaktoren zu eliminieren. Auf diese Weise haben sie enorm an Effizienz gewonnen. Allerdings ging dabei zwangsläufig etwas sehr Wertvolles verloren: Der Raum für Experimente und die Freude am Ausprobieren. Dieser Verlust schlug sich bereits vor #covid19 deutlich in Zahlen nieder. Laut Mittelstandspanel der KfW-Bank, für das insgesamt 15.000 Unternehmen untersucht werden, zehren viele deutsche Mittelständler vom Bestand: Wo zwischen 2004 und 2006 noch 43 Prozent der Unternehmen neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt gebracht hatten, war dieser Anteil zehn Jahre später auf alarmierende 22 Prozent gesunken. Die Corona-Krise könnte jetzt die Chance bieten, eine überfällige Erneuerung auf den Weg zu bringen.
„Die Anstrengungen zur Effizienzsteigerung haben in vielen Unternehmen zu einer Überstrukturierung und strukturellen Erschöpfung geführt“,sagt Barbara Heitger, die als systemische Unternehmensberaterin viele größere und kleinere Mittelständler begleitet. „In perfekt durchstrukturierten Organisationen finden sich kaum noch jene Redundanzen und Freiräume, die Innovationen zum Prosperieren benötigen.“ Mittlerweile versuchen viele Organisationen, zumindest temporär wieder „Dritte Orte“ zu schaffen, an denen Experimente erlaubt sind, Muster gebrochen und dadurch neue Impulse gesetzt werden. Einige dieser Musterbrecher schauen wir uns näher an – verbunden mit der Frage: Wie müssen sie beschaffen sein, um wirklich etwas in Unternehmen zu bewirken?
Musterbrechermodell 1 – Experimentierfreude wecken
Musterbrechermodell 1 – Experimentierfreude wecken
Der Ansatz: „FabLabs“ (für: „Fabrication Laboratories“) oder „Makerspaces“ sind Werkstätten für das freie Experimentieren. Neben neuen Produktideen sollen Mitarbeiter hier auch neue Formen der Zusammenarbeit ausprobieren und ihre kreativen Fähigkeiten entdecken.
Wer macht’s?Die Fab-Lab-Bewegung entstand 2002 am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und begeistert mittlerweile Menschen in aller Welt, die auf neue Art miteinander arbeiten und zu ganz neuen Ideen kommen wollen. Heute gibt es weltweit einige hundert Fab Labs und Maker Spaces, die meisten in öffentlicher Hand. Dank einer großzügigen Ausstattung mit Werkzeugen und 3D-Druckern können Nutzer hier Produktideen ausprobieren und Prototypen fertigen. Siemens unterstützte das Nürnberger Fab Lab, der Prothesenhersteller Otto Bock das Berliner. Der Elektrotechnikkonzern Hager Group hat sich in seiner französischen Unternehmenszentrale sogar ein voll ausgestattetes Fab Lab namens „Garden“ gebaut. Hier arbeiten Kollegen aus ganz unterschiedlichen Abteilungen, die üblicherweise gar nicht miteinander kooperieren würden, gemeinsam an Projekten. Im „Garden“ erwartet sie nicht nur eine kompetente Betreuung, sondern vom 3D-Drucker über eine kleine Lackierkabine bis zum Fotostudio alles, was es für die Generierung, Produktion und Präsentation von Produktkonzepten und Lösungen braucht.
Die Wirkung:„Kreativität findet sich überall im Unternehmen“, sagt Johann Michel, Leiter des Fab Labs. „Mit dem ‚Garden‘ schaffen wir ideale Bedingungen, damit sie sich entfalten kann. Hier lernen die Kollegen, ihre Ideen nicht nur bis zum Prototypen zu entwickeln, sondern auch zu pitchen.“ Problem: Wie erfolgreich dieser Ansatz ist, lässt sich nur schwer bemessen.
Musterbrechermodell 2 – Phantasie beflügeln
Musterbrechermodell 2 – Phantasie beflügeln
Der Ansatz: Denkt mal weiter! Bei „Strategy-Fiction“ denken Philosophen die Unternehmensstrategie im Auftrag von Vorständen und Unternehmenstrategen weiter. Strategy-Fiction ist eine Art theoretisches Versuchslabor, in dem Firmen hypothetische Strategien jenseits des Naheliegenden simulieren.
Wer macht’s?Christopher Topp, Philosoph und Stratege der Berliner Strategieberatung GmbH, begleitet als Vor-Denker unter anderem deutsche Premium-Automobilhersteller und die hiesige Wikimedia. „Wir erkunden für Unternehmen die weißen Flecken auf ihrer Landkarte, jenes Niemandsland, das Unternehmenslenker normalerweise nicht auf dem Zettel haben“, erläutert er. „Viele Ideen scheinen zunächst absurd, aber der Raum des Absurden ist es ja, in dem die Chancen und Potenziale liegen, mit denen man sich wirklich vom Wettbewerb differenzieren kann. Vieles, was denkbar ist, ist irgendwie auch machbar. Und wir denken die Machbarkeit auf Basis logischer Argumentation durch.“ Meist wird ein Gedankenexperiment in kleiner Runde mit Führungskräften entwickelt und über mehrere Wochen hinweg durchgearbeitet. Topps Arbeit für den deutschen Wikimedia-Vorstand beispielsweise erstreckte sich über ein halbes Dutzend mehrstündige Termine im Zeitraum von acht Wochen. Als 2.500 Jahre altes Universalinstrumentarium biete die Philosophie deutlich weitreichendere Einsichten und Erkenntnisse, als die üblichen Szenarien-Tools zu leisten vermöchten.
Die Wirkung„Ich kenne unterschiedlichste Methoden der Strategieentwicklung, aber so etwas Erhellendes habe ich noch nicht erlebt“, erinnert sich Abraham Taherivand, Geschäftsführender Vorstand Wikimedia Deutschland. „Strategy Fiction ist ein Gedankenexperiment, das scheinbar Undenkbares strukturiert zu durchdenken und auch die entfernteren, vermeintlich unerreichbaren Horizonte unseres Geschäftsfelds zu erreichen hilft. Uns bei Wikimedia hat Strategy Fiction ermöglicht, in ganz neue Denksphären aufzubrechen. Und das Irre war: Ich bin selbst aus vierstündigen Strategy Fiction-Workshops stets mit mehr Energie herausgekommen, als ich hineingegangen war.“
Musterbrechermodell 3 – Unternehmergeist reaktivieren
Musterbrechermodell 3 – Unternehmergeist reaktivieren
Der Ansatz: Mit internen Start-ups holen sich etablierte Firmen einen Teil jenes Gründergeistes ins Haus, der großen Organisationen fehlt. Als Intrapreneure verändern sie gleichzeitig – so zumindest die Hoffnung – ein Stück weit auch das Mutterunternehmen.
Wer macht’s?Corporate Start-ups gibt es in vielen, vor allem größeren Firmen – vom Spezialchemiehersteller Evonik bis zur Wagner Group im schwäbischen Markdorf. Beim Marktführer für Oberflächenbeschichtungen wurde vor sieben Jahren die Idee für ein neuartiges kosmetisches Hand-Sprühgerät entwickelt, mit dem sich beispielsweise Sonnenschutzlotion zuverlässig auftragen lässt. Für den Mittelständler, der ansonsten mit Industrie- und Handwerkerkunden im Geschäft ist, ein bis dato komplett unbekanntes Marktsegment. Anstatt die Innovation auszulagern, entschied das Unternehmen, sie mit einem unternehmenseigenen Start-up auf den Markt zu bringen. Seither entwickelt die IONIQ Skincare GmbH, eine 100%ige Tochter der Wagner Group, Technologie und Markenstrategie für das neuartige Produkt aus eigener Kraft. Das Büro für die aktuell 14 IONIQ-Mitarbeiter ist bewusst mitten in der Wagner-Firmenzentrale angesiedelt, und nicht wie sonst üblich in einem fernen Corporate Incubator. Das erleichtert dem Technologieprojekt zum einen die Vernetzung mit Wagner-Produktentwicklern, dem Human Resources-Department und anderen Wagner-Abteilungen, die das Start-up unterstützen; vor allem aber erhofft sich das Unternehmen über die Schnittstellen Abstrahleffekte auf den großen „Rest“ des Unternehmens.
Die Wirkung:„IONIQ ist das beste Beispiel für die Innovationskraft, die wir bei der Wagner Group aktivieren wollen“, erklärt Guido Bergman, Geschäftsführer der Wagner Group. Das Corporate-Venture-Projekt solle helfen, die 100 Mal größere Traditionsfirma von innen heraus zu modernisieren. Auch wenn die unterschiedlichen Unternehmenskulturen von Start-up und Mutterfirma regelmäßig kollidierten, habe sich das Abenteuer schon jetzt gelohnt: Angespornt vom IONIQ-Beispiel hätten mehrere Wagner-Mitarbeiter eigene Produktideen entwickelt und eingereicht. Und dank der mutigen Inhouse-Gründung akquiriere die Mutterfirma heute Talente, die sich früher nie für den Mittelständler interessiert hätten. Bergmans Fazit: „Unser Unternehmen ist dank unseres internen Start-ups ein anderes als zuvor.“
Musterbrechermodell 4 – Expeditionen wagen
Musterbrechermodell 4 – Expeditionen wagen
Der Ansatz: Statt sich Innovatoren ins Haus zu holen, macht sich das Unternehmen – oder Teile davon – selbst auf eine Expedition zu erfolgreichen Innovatoren und Gründern.
Wer macht’s?Ein viel beachteter Expeditionstrupp brach 2013 vom Springer-Verlagshaus im Berliner Westen in Richtung US-Westküste auf. Kai Diekmann, damals Chefredakteur der Bild-Zeitung, siedelte für ein Jahr mit zwei weiteren Managern des Springer-Verlages ins Silicon Valley über. Dort wohnten die Verlagsmanager in Zweibettzimmern und verwandelten sich in eine Art Praktikanten. Ihre Mission: In einer Art Forschungsprojekt die Kultur der digitalen Gründerszene verstehen lernen, Ideen für neue Geschäftsmodelle sammeln und Erkenntnisse für ihr Unternehmen gewinnen. Für Unternehmensberaterin Barbara Heitger ein vorbildlicher Ansatz: „Wenn eine Unternehmensführung wirklich Neues will, sollte sie sich selbst ihm auch aussetzen. Wer als Führungskraft echte Experimente wagt, demonstriert gleichzeitig, dass das Neue für sie oder ihn nicht bloß ein Schlagwort ist.“
Die WirkungSchwer zu quantifizieren. Bei Axel Springer, einst ein reines Print-Verlagshaus, steuert das Digitalgeschäft mittlerweile 80 Prozent der bereinigten Gewinne vor Steuern bei. Die konsequente Digitalstrategie des Verlages scheint sich auszuzahlen.
Epilog – Was konsequentes Anders- und Umdenken wirklich bedeutet
Epilog – Was konsequentes Anders- und Umdenken wirklich bedeutetWer etablierte Routinen im Unternehmen brechen und Raum für Experimente will, muss ihnen zunächst gründlich das Feld bereiten. Ohne Resonanzboden im Inneren verhallen Impulse von außen mit hoher Wahrscheinlichkeit wirkungslos. Und: Veränderungsbereitschaft sollte im Idealfall an der Unternehmensspitze anfangen. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass Kreativdenker-Impulse kosmetisch und Veränderungen lediglich oberflächlich bleiben. Schließlich ist die Beharrungsfähigkeit des Menschen fast so ausgeprägt wie seine Vorliebe für Vertrautes und Routinen. „Die Menschen sind sehr offen für neue Dinge“, wusste schon der legendäre General-Motors-Entwicklungsingenieur Charles Kettering, „solange sie nur genau den alten gleichen.“
Manchmal verändern sich die Dinge aber in kürzester Zeit. Unternehmertum bedeutet, auf unvorhergesehene Situationen klug zu reagieren. Nicht zuletzt #covid19 lehrt uns, dass Unternehmen vom Autozulieferer zum Atemschutzmaskenproduzenten werden oder von Kosmetika auf Desinfektionsmittel umsatteln können. Das Überleben von Unternehmen hängt direkt mit ihrer Innovationsfähigkeit zusammen. Und manchmal retten sie damit sogar das Leben und die Gesundheit vieler anderer.
Schon entdeckt?
Fabrik der Unikate
Wird Individualität zum neuen Maßstab für die Industrie der Zukunft? Intelligent vernetzte Prozesse ermöglichen bereits heute die Massenproduktion von Unikaten.
Spot on Dänemark
Wie haben die Dänen geschafft, wovon viele Deutsche träumen – und wovor manche sich gruseln?
Text:
Harald Willenbrock, Texter und Autor in Hamburg, ist Mitglied der brand eins-Redaktion, Mitgründer und Co-Redaktionsleiter des Outdoor-Magazins WALDEN, Autor bei GEO, A&W, NZZ-Folio und anderen sowie Corporate Texter für Marken wie BMW, Duravit, Porsche und COR.