Fabrik der Unikate
Lesezeit: ca. 15 Min.Fabrik der UnikateDie Industrie der Zukunft kann mehr als Massenproduktion vom Fließband. Weil die digitalisierte Fabrik intelligent, vernetzt und wandelbar ist, kann sie wie eine Manufaktur im Handumdrehen auf Trends und Kundenwünsche reagieren. Vorreiter wie Porsche produzieren schon heute Unikate in Serie. So könnte Losgröße 1 künftig zum Maßstab für die smarte Fertigung werden. Eine Reise zu Leuchttürmen im Datenmeer.
KAPITEL 2 – Suche nach Individualität
KAPITEL 3 – Die Porsche-Praxis
KAPITEL 4 – Prinzip Perlenkette
KAPITEL 5 – Fischgräten-Prinzip
KAPITEL 6 – Rückkehr nach Europa
KAPITEL 7 – Highspeed mit Adidas
KAPITEL 8 – Der Maß-Anzug
KAPITEL 9 – Quo vadis, Smart Factory?
Smart Factory as a Service – ein Blick in die Zukunft
Smart Factory as a Service – ein Blick in die ZukunftDie Zukunft beginnt in München Ost, Atelierstraße 14. Im dynamischen Werksviertel, wo die Firma Pfanni jahrzehntelang Kartoffeln schälte, versammeln sich heute Start-ups, Bars und Kultur-Hotspots. In den Fenstern des orangenen „Werk 3“ spiegelt sich der weiß-blaue Himmel. Gleich im ersten Stock des Gewerbeturms steht seit Juni 2018 die SFaaS: die Smart Factory as a Service; eine Neugründung des Augsburger Roboterspezialisten Kuka, des Rückversicherers Munich Re und der Beratungsgesellschaft MHP. Geschaffen, um anderen zu zeigen, wie weit die Entwicklung und die Produktion von Kleinstserien bis zur Losgröße 1 heute schon sind.
Hinter mannshohen Scheiben ist die vollautomatische Industrieeinheit aufgebaut: fünf orangefarbene Handling-Roboter, eine Lasereinheit und ein Industriedrucker, die weitaus mehr verkörpern als nur eine Modellbauanlage. Legt man am Eingangsschacht graue Pappscheiben ein und drückt den Startknopf, kann die smarte Fabrik daraus binnen einer Viertelstunde vier unterschiedliche Puzzle aus vier Handyfotos drucken, schneiden, verkleben und abschließend in bunte Umschläge verpacken. So wird die Produktion von morgen schon heute live erlebbar. „Unser Demonstrator beweist, dass Losgröße 1 in der Produktion mit Industrierobotern technisch kein Problem mehr ist“, sagt MHP Senior Manager Rudolf Schmid.
Die Arbeitsschritte im Puzzle-Beispiel stehen dabei symbolisch für zentrale Industrieprozesse: die Lineareinheit für Logistik, der Drucker für Oberflächenbeschichtungen, der Laser für formgebende und spanende Fertigung und die Klebe-Einheit für Montagetätigkeiten.
Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Die SFaaS steht vor allem für einen ganzheitlichen, digitalen Ansatz von der ersten Produktidee bis zu deren Vermarktung und finanzieller Absicherung. Die drei beteiligten Partner wollen die gesamte Wertschöpfungskette digitalisieren, damit einen durchgängigen Datenfluss umsetzen und bisher nicht verbundene Bereiche der Produktionsentwicklung miteinander verschmelzen.
Dr. Markus Junginger, Associated Partner bei MHP und einer der Väter der SFaaS, beschreibt die Ausgangslage für die innovative Idee unmissverständlich: Einerseits forderten Kunden eine immer größere Individualität ihrer Fahrzeuge, bis hin zu selbst kreierten Elementen. Anderseits wollten sie ihre Neuwagen immer schneller bekommen. Gleichzeitig sei die Entwicklungszeit für neue Autos in Deutschland auf mindestens 56 Monate gestiegen – während sie bei großen Playern in Japan deutlich gesunken sei.„Die SFaaS ist nun in der Lage, den Produktentwicklungsprozess durch ein durchgängiges Daten- und Risikomanagement deutlich zu reduzieren“, sagt Junginger.So könne die Markteintrittszeit neuer Produkte um bis zu 30 Prozent verkürzt werden. Solch eine Beschleunigung sei in der Produktion allein nicht mehr zu erreichen, sondern nur in der gesamten Wertschöpfungskette.
„Eine individuelle Massenproduktion mit den Werkzeugen der Serienproduktion bedeutet vor allem Durchgängigkeit in Daten, Prozessen und Organisationen“, betont Junginger. „Die SFaaS ist dafür ein Vorzeigebeispiel.“Künftig soll die Münchener Anlage auch für praktische Anwendungen genutzt werden. Der Porsche-Konzern hat bereits in Auftrag gegeben, kleine 3-D-Modelle eines 911er-Porsches zu produzieren. Für die nächsten Jahre wird bei den drei SFaaS-Gründern schon an Anlagen in größerem Stil gedacht. Interessierte Unternehmen seien eingeladen, Teil des Netzwerks zu werden und die Entwicklung der Zukunft mitzugestalten, so Junginger.
Suche nach Individualität
Suche nach IndividualitätDie Münchener Modellfabrik SFaaS zeigt einen Paradigmenwechsel in der Industrie: Bisher prägt eine undifferenzierte Massenproduktion die globalen Wirtschaftsmärkte. Nur bei Waren mit längeren Lebenszyklen wie Maschinen, Autos oder Küchen sind individuelle Konfigurationen bereits Standard. Doch seitdem immer mehr Produkte digital bestellt und immer mehr Maschinen digital gesteuert werden können, erreicht die flexible Fertigung auch schneller drehende Konsumbereiche wie Mode, Schuhe und Betten.
„Die Suche des Menschen nach Individualität hat den Massenmarkt erreicht“, sagt Professor Frank Piller, Experte für Mass Customization an der RWTH Aachen. Die vernetzte Fabrik macht heute Kleinstserien bis hin zur Losgröße 1 technisch und finanziell möglich. So baut Adidas mit seinen Speedfactories individualisierbare Sportschuhe und die Modeplattform Zozo verkauft passgenaue Kleidung nach persönlichen Körpermaßen. Die Individualisierungswelle gilt bereits als wichtiger Wirtschaftsfaktor und neuer Umsatztreiber. „Wer sich nicht an kleinere Losgrößen anpasst, wird vom Markt verschwinden“, prognostiziert Robin Exner vom Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum, eine Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums.
Unikate in Serie – die Porsche-Praxis
Unikate in Serie – die Porsche-PraxisFür den Porsche-Konzern ist der smarte Individualisierungs-Anspruch kein Zukunftsthema mehr, sondern längst Alltag. Allein im riesigen Porsche-Werk Leipzig entstehen bis zu 140.000 nagelneue Macan und Panamera im Jahr.
Und jeder ist ein Einzelstück. Ein Ortstermin.Sachte gleiten die Karosserien auf den fahrbaren Holzbodenplatten durch die Werkshalle: Schwarz, grau, blau, weiß, rot ziehen die unverkleideten Wagenaufbauten vorbei. An knapp 200 Takt-Stationen verbauen die Werker in kleinen Teams nach und nach sämtliche Einzelteile: Panoramadächer, Kabelstränge, Armaturen, Ledersitze, Motoren, Bremsen, Reifen – bis am Ende der fertige Sportwagen aus der Halle rollt, mehr als 600 Stück am Tag.
Mit Zwei-Minuten-Takten bewegt sich der Porsche auf dem Produktionsband eher gemäßigt. Aber die Ansprüche an Qualität und Varianz verlangen diese Zeitspanne: Mit dem Car Configurator des Premiumwagen-Bauers sind laut Konzernberechnungen fast zwei Trilliarden Variationsmöglichkeiten denkbar. Und die Kunden machen regen Gebrauch davon: Kaum ein Porsche auf dem Band sieht aus wie der vor ihm. „Wir produzieren Unikate in Serie“, betont der Leiter der Produktionssteuerung, David Jakob. „Bis auf wenige Ausnahmen baut Porsche nur Fahrzeuge nach individuellem Kundenwunsch – aber alle auf dem gleichen Band.“Wie ist das möglich?
Die maßgeschneiderte Produktion beginnt mit dem Auftrag im Porsche-Kundenzentrum. Jedes Auto wird dort individuell zusammengestellt und ist somit ein Einzelstück: „Ein Alleinstellungsmerkmal der Marke Porsche“, betont Jakob. Das bestellte Fahrzeug wird für die Fertigung sofort in der IT-Landschaft der Produktion erfasst. Das System bucht online einen Produktionsslot im Leipziger Werk, der für den bestellten Porsche reserviert wird. „Innerhalb von Sekunden werden Produktions- und Lieferkapazitäten dem Auftrag zugeordnet und ein genauer Liefertermin prognostiziert“, erzählt Jakob. „Neben der Qualität ist dieses Lieferversprechen eines unserer höchsten Güter.“ Für die Sicherheit der Abläufe koordinieren Vertrieb, Produktion und Beschaffung ständig, welche Aufträge in den nächsten Wochen auf das Werk zurollen.„Dieser Handshake ist extrem wichtig“, so Jakob.
Produktion nach dem Prinzip Perlenkette
Produktion nach dem Prinzip PerlenketteUm effizient, schnell und trotzdem individuell zu produzieren, setzt Porsche auf das Prinzip der Perlenkette: Alle Fahrzeuge werden auf einem Band produziert. „Dank der hohen Mitarbeiterqualifikation funktioniert das Prinzip einwandfrei“, sagt Jakob. Die rund 600 Fahrzeuge täglich arbeitet das Werk in Tagesscheiben ab. Innerhalb dieser Tagesscheiben wird die Reihenfolge nach Kosten, Ressourcen, Umwelt und Taktung optimiert.
Heutige Roboter und Maschinen sind längst in der Lage, eine breite Palette von Arbeitsschritten umzusetzen, denn alle benötigten Varianten sind vorab programmiert. Müssen sehr unterschiedliche Aufgaben im gleichen Arbeitstakt umgesetzt werden – wie ein Schiebedach für den kleinen Macan und ein riesiges Panoramadach für den großen Panamera – stehen zwei verschiedene Anlagen nebeneinander bereit. Die Steuerung der Maschinen läuft dabei digitalisiert und automatisch über die Shopfloor-IT: Die Information, was in welcher Reihenfolge zu montieren ist, erhält der Roboter via Fahrzeugauftrag über die Produktionsdatenplattform der zentralen Fabrik-IT, die vom Karosseriebau über die Montage bis zur Logistik reicht. Der jeweilige Auftrag wird zuvor in Einzelteile zerlegt und für die Maschine übersetzt. Ohnehin rollen alle Fahrzeuge mit Bodytracking transparent durchs Werk, sodass die Intelligenz der Fabrik die Abläufe kontrolliert und bei Störungen sofort reagiert.Gerade durch diese hohe Flexibilität dürfen die Kunden lange wählerisch bleiben: Bis etwa zehn Tage vor ihrem Produktionstermin können sie Ausstattungswünsche noch ändern.
Montage im Fischgräten-Prinzip
Montage im Fischgräten-PrinzipDas Bedarfs- und Kapazitätsmanagement von Porsche kümmert sich parallel darum, dass die etwa 800 Lieferanten synchron zum Leipziger Werk getaktet werden. Das Prinzip Perlenkette strahlt dabei von Leipzig nach ganz Europa aus.
„Wir spiegeln unseren Lieferanten von Portugal bis in die Ukraine die Aufträge in der gleichen Reihenfolge, die wir hier im Werk abbilden“, erzählt Fabian Troll, der Leiter der Fahrzeugsteuerung. Alle relevanten Lieferanten erhalten die Vorschau zehn Tage vor Produktionsbeginn. Lieferanten aus dem näheren Werksumfeld erhalten zusätzlich ein Update mit der realen Fertigungsreihenfolge vier Stunden vor dem Produktionsstart. Die Bauteile werden nach Bedarf aus den sogenannten „Supermärkten“ im Werk abgerufen. Dort wird das Material mittels „Pick by Light“ für die Produktionslinie kommissioniert: Über Lichter und Displays werden den Kommissionierern an den Entnahmefächer die benötigten Artikel und Mengen angezeigt. Getaktete Routenzüge bringen sie nach dem Fischgräten-Prinzip punktgenau ans Band, sodass die Kollegen die individuelle Varianz im Takt montieren können: „Just in time, just in sequence“. Auf dem Laufenden gehalten werden die Werker in der papierlosen Fabrik über Touchscreens an den Montagestationen. Noch. Künftig sollen sie wesentliche Informationen zur Fahrzeugmontage über eine Smartwatch bekommen und per Tastendruck in Echtzeit mit der Fabrik-IT kommunizieren können. Schließlich ist jeder Porsche ein Unikat.
Rückkehr nach Europa
Rückkehr nach EuropaDer Aachener Innovationsforscher Frank Piller kennt sich aus in der Verknüpfung von individuellen Kundenwünschen mit der Massenproduktion. Er weiß, woher die Entwicklung kommt und wohin die Reise geht: „Losgröße 1 ist im Grunde nichts Neues“, sagt Piller. „Der deutsche Maschinenbau beherrscht sie seit Jahrzehnten, sie ist seine Daseinsberechtigung.“
Auch der Trend zur Personalisierung von Produkten sei seit 20 Jahren erlebbar – vom Maßhemd diverser Online-Konfektionäre über den individuellen T-Shirt-Drucker Spreadshirt bis zum Passauer My-Muesli-Mix per Mausklick. Die Webseite www.configurator-database.com zählt international mehr als 1.200 Internetseiten, auf denen Kunden Produkte konfigurieren können – vom Anhänger-Zelt über das Dirndl und den Lattenrost bis zur Yacht. In der Regel seien es Start-ups, die ihre individuelle Produktion nach oben skalieren – und nicht die großen Konzerne, die Massenfertigung nach unten skalieren, sagt Piller. Zwar hätten viele große Unternehmen Pilotprojekte mit Kleinserien unternommen, sie seien aber letztlich gescheitert. Die wirkliche Innovation an der jüngsten Entwicklung sei, dass die Massenproduktion von Konsumgütern nach Deutschland zurückkehrt. „Individualisierung war bisher vor allem mit billigen Anbietern in Asien möglich“, so Piller. „Doch die Logistikkosten und die Lieferzeiten waren um ein Vielfaches höher.“ Mit der Digitalisierung und der Automatisierung sei jetzt ein Comeback der Fertigung in Europa möglich.
Gerade in der Nähe zu den Absatzmärkten liege ein großer Vorteil für beide Seiten: Statt in einer zentralen, fernen Fabrik zu produzieren, könnten heute dezentrale, digitale Fabriken nah beim Kunden effizient agieren. Vorreiter wie die Sportartikelhersteller Nike und Adidas machen es längst vor.„Produktionstechniken haben sich verändert und erlauben große Vereinfachungen“, sagt Piller.Früher habe man für Schuhe den Leisten und ungefähr 36 Arbeitsschritte benötigt, heute seien es nur noch drei Schritte. „In der werkzeuglosen Produktion werden Turnschuhe in 3-D gestrickt.“ Näher beim Kunden und schneller sei nur noch eine „store-factory“, die Kleidungsstücke im Laden herstellt.
Highspeed mit Adidas
Highspeed mit AdidasAufhorchen lassen zurzeit vor allem die Speedfactories von Adidas in Ansbach und Atlanta: Hochflexible Schuhfabriken, in denen mit modernsten Fertigungstechnologien in wenigen Stunden Schuhe hergestellt werden können – made in Germany und ausgezeichnet mit dem Deutschen Innovationspreis 2018.
Vorigen Herbst wurde mit der Laufschuhserie „AM4“ („adidas made for ...“) das erste Großprojekt vorgestellt: ein individuell entworfener, aber digital und automatisiert hergestellter Sportschuh. Die Serie wird zusammen mit Athleten entwickelt und auf die Wünsche und Bedürfnisse der Läuferschaft zugeschnitten. Derzeit gibt es die Modelle London, New York, Los Angeles und Shanghai, weitere sollen folgen. Ein Schuh der limitierten Auflagen kostet allerdings 200 Euro.
In den Speedfactories fertigen Produktionseinheiten die Sohle sowie das Obermaterial und erledigen das Zusammenfügen. „Wir bauen den Schuh Schicht für Schicht auf und fügen nur das Material hinzu, das wirklich benötigt wird“, sagt Adidas-Sprecherin Mandy Nieber. „So können wir effizienter produzieren, den Ressourceneinsatz reduzieren und Abfälle vermeiden.“ Zudem erlauben die Speedfactories eine direkte Überführung von Designdaten in die Produktionsmaschinen. 160 Mitarbeiter sind in jeder der beiden Speedfactories beschäftigt.Doch all das ist erst ein Zwischenschritt. Die Vision, die adidas treibt, ist eine schnelle und flexible Produktion nah beim Kunden sowie die Chance, Sportlern zukünftig maßgeschneiderte Schuhe anbieten zu können. Bei einer neuen Serie soll sogar jeder Punkt einer Zwischensohle individuell auf die physiologischen Daten und Bedürfnisse des Athleten abgestimmt werden. Als ein Herzstück der Innovation gilt die digitale Lichtsynthese.
Dabei wird die Zwischensohle des Laufschuhs „Futurecraft 4D“ aus flüssigem Kunstharz mithilfe von Sauerstoff und Lichteinsatz geformt. Mit dem innovativen Verfahren will sich Adidas bereits wieder vom 3-D-Druck verabschieden und die additive Fertigung auf eine neue Ebene heben, heißt es im Konzern. Vorerst wurde der „Futurecraft 4D“ noch auf Basis von Athletendaten, die über einen Zeitraum von 17 Jahren gesammelt wurden, geformt. Bis Ende 2018 werden die ersten 100.000 Paare hergestellt. „Langfristig wird es diese Technologie ermöglichen, jedem Sportler maßgeschneiderte Laufschuhe anbieten zu können“, sagt Sprecherin Nieber.
Partner für die digitale Lichtsynthese ist das Tech-Unternehmen Carbon aus dem Silicon Valley. Deren Mitgründer und CEO Joseph DeSimone erklärt die Dimension der neuen Technologie: „Der Fertigungsprozess befolgt seit Urzeiten dieselben vier Schritte: Design, Prototyp, Werkzeug und Fertigung. Carbon hat das geändert. Wir haben den Zyklus unterbrochen und den direkten Weg vom Design zur Fertigung geschaffen.“ Das wäre eine neue Grundlage für Los 1.
Ein Maß-Anzug vermisst die Kunden neu
Ein Maß-Anzug vermisst die Kunden neuDie Zukunft kommt mit dem Paketdienst. Er bringt einen großen weichen Umschlag. Darin: Ein Ganzkörperanzug, hauchdünn wie eine Feinstrumpfhose, pechschwarz und mit 300 weißen Messpunkten übersät.
Der „Maß-Anzug“ ist der neueste Schrei des japanischen Modeversand-Riesen Zozo. Er hat die standardisierten Konfektionsgrößen abgeschafft und versendet T-Shirts und Jeans nach Maß. Seit Ende August ist Zozo in Europa auf dem Markt. Wer bei Zozo bestellt, bekommt zuerst den Mess-Anzug zugeschickt. Die eng anliegende Hose und das Oberteil streift man über, lädt die App auf sein Smartphone, bastelt ein kleines Pappstativ und stellt sich vor die Handykamera. In zwölf Schritten dreht man sich um die eigene Achse, bis alle Messpunkte fotografiert sind. Am Ende erhält man eine präzise 360-Grad-Körperabbildung mit allen Gliedmaßen – und kann passend bestellen. Das Angebot soll die perfekte Passform für jene Kunden garantieren, die nicht den Standardproportionen der Modeindustrie entsprechen.
Slogan: „Wir machen Kleidung in einer Größe: Deiner.“Dahinter steckt nicht nur ein Marketinggag, sondern eine neue Philosophie der Produktion: Zozo stellt Tausende unterschiedliche, an die Vielfalt der zahllosen Körperformen angepasste Maß-Kombinationen seiner Kleidungsstücke in China her und baut die Palette stetig aus. Die Ware für Europa liegt dann in einem Lager bei Berlin bereit. Passen die Proportionen eines Kunden mal nicht zu den vorgefertigten Modellen, wird die Bestellung nach Maß angefertigt. Die Lieferung dauert dann zwei bis drei Wochen. Eine Jeans kostet trotzdem nur 59 Euro, ein T-Shirt ist ab 22 Euro erhältlich.
Zozo wurde nicht von ein paar waghalsigen Start-up-Gründern ins Leben gerufen, sondern von einem Mann, der das Geschäft bestens kennt: Der milliardenschwere japanische Unternehmer, Kunstsammler und ehemalige Punkrocker Yusaku Maezawa, 42. Sein Mutterkonzern „Start today“ betreibt mit Zozotown Japans populärste Online-Modeplattform, macht zwei Milliarden Euro Umsatz und ist seit 2007 an der Börse notiert. Nun wollte Maezawa nach eigenem Bekunden etwas gegen das „Diktat der Kleidergrößen“ tun – weil die Mode dem Kunden wahlweise unterstellt, man sei zu dick, zu dünn, zu klein oder zu groß, der Arm sei zu lang oder die Hüfte zu breit. Die alten Maße haben dabei historische Gründe: Mit dem Aufkommen der Manufakturen im 18. Jahrhundert waren Kleidergrößen für die Massenproduktion eingeführt worden. Seither produzieren Modemarken ihre Kollektionen nach Maßen von Körpermodels – als vermeintliche Normalproportionen. Zeit für einen Wandel.
Quo vadis, Smart Factory?
Quo vadis, Smart Factory?Das Neue, das technisch Machbare, wirft immer auch neue spannende Fragen auf. Zum Beispiel: Bis zu welchem Stadium sind Produkte der Losgröße 1 lizenziert und zugelassen? Wer übernimmt sonst die Verantwortung für die speziellen Einzelstücke? Und in welchen Bereichen wollen die Kunden ein schier endloses Angebot überhaupt nutzen?
Für Professor Frank Piller steht fest: Zwar dürfte die klassische Massenfertigung in manchen Branchen auch auf längere Sicht noch ihre Berechtigung behalten. Doch in vielen Märkten dürfte es bald alternativlos sein, dem Kunden individualisierbare Produkte anzubieten. Was mit Mass Customization einen echten Mehrwert bietet, werde sich künftig durchsetzen, so Piller.Zugleich befinden sich bereits ganz neue Optionen in der Pipeline: Werden zukünftig fahrerlose Transportsysteme in einer modularen Auto-Montage die Fließbandproduktion ablösen, wie es Audi schon testet? Welche Chancen bietet der 3-D-Druck selbst mit Metall, wenn Kompetenzzentren für additive Fertigung in verschiedenen Branchen bereits aus dem Boden sprießen? Gibt es bald Stadtteil-Shops, in denen sich Kunden ihre online konfigurierten Waren einfach selbst ausdrucken?
Klar ist: Die Losgröße 1 bietet sehr viele Zukunftschancen – und die SFaaS im quirligen Münchener Werksviertel bietet heute schon einen Vorgeschmack darauf, was in Zukunft in der Industrie technologisch umsetzbar sein kann.
Porsche Car Configurator
Porsche lebt die Losgröße 1 – mit dem hauseigenen Car Configurator.
Adidas Speedfactory
Speedfactory ist zukunftsweisende Fertigungstechnologie, die aus digitalen Athletendaten Schuhe macht. Das Ergebnis: Performance-Footware, die präzise auf den Sportler abgestimmt ist.
SFaaS
MHP, KUKA und Munich Re kooperieren erstmals, um die Kernkompetenzen Software Integration, Automationstechnologie, Anlagentechnik sowie Risiko- und Finanzmanagement zu kombinieren.
Text von:
Sven Heitkamp