New Metropolis Love
Lesezeit ca.10 Min. New Metropolis LoveDie Beziehung der Menschen zu ihren Städten ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten immer toxischer geworden. Eine der wesentlichen Ursachen: der stetig wachsende Autoverkehr. Doch endlich zeichnet sich eine Trendwende ab. Neue Technologien für Mobilität ebnen den Weg hin zu mehr Fahrzeug-Sharing und Nachhaltigkeit, weg vom Individualtrip mit dem privaten Verbrenner. Damit verändern die Großstädte ihr Gesicht: Sie werden wieder lebenswerter und liebenswerter.
In Barcelona wurde nicht länger gefackelt, sondern zugepackt: Ganze Straßenzüge wurden gesperrt und umgebaut, Kübel mit Grünpflanzen wie Alleen aneinandergereiht, Rasen gesät, Radwege und Spielplätze angelegt, Bänke und Tische aufgestellt – und der Durchgangsverkehr wurde um die neuen „Superblocks“ herumgeleitet. Anwohner und Lieferdienste schleichen nun mit Tempo 10 um die Ecke. Aus einst stark befahrenen Quartieren sind begehrte Begegnungsorte geworden: ruhig, grün und sicher, sozial und lebendig. Der Umsatz von Cafés und Läden steigt, die Mieter-Fluktuation sinkt.
„Wenn wir den Autos den Platz wegnehmen“, sagt Janet Sanz, 37 und Barcelonas Bürgermeisterin für Ökologie, Stadtplanung und Mobilität, „gewinnen wir mehr Gesundheit und Lebensqualität.“
Das Modell Barcelona begeistert mittlerweile viele Städte in der Welt – weil es für einen neuen urbanen Trend steht, der sich immer mehr Bahn bricht: Mobilität wird nicht mehr nur mit der Abkürzung „PKW“ assoziiert, sondern vielfältig ausprobiert.Sharing-Angebote sind in Großstädten bald an jeder Kreuzung verfügbar,Straßen weichen Radwegen und Grünstreifen.
Amsterdam und Kopenhagen wurden zu Fahrradwelthauptstädten, Paris erklärte sich zur Tempo-30-Zone. Oslo entwickelt sich zur europäischen Elektromobilitäts-Hauptstadt und eifert dem Vorbild Shenzhens nach: In Chinas digitaler Musterstadt ist bereits seine gesamte Flotte mit 16.000 Stadtbussen und 22.000 Taxen elektrisch unterwegs. Selbst Robotaxis und autonome Kleinbusse sind von San Francisco bis Singapur im Einsatz, ab 2022 auch in München. Und das sind nur einige Beispiele.
Das Wiedererwachen der Städte
Das Wiedererwachen der StädteProfessor Andreas Knie leitet die Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin, er beobachtet nicht erst seit der Corona-Pandemie einen Bewusstseinswandel.
Für Knie steht fest: Städte haben sich seit den 50er Jahren zu sehr auf motorisierten Verkehr ausgerichtet und viel zu viel Raum hergegeben, der einfach zugeparkt wird. Doch das ändert sich jetzt.Immer mehr Städte würden sich laut Knie auf den Weg machen, den Gebrauch von Autos effizienter zu gestalten: mehr nutzen, weniger besitzen.
Tatsächlich nimmt laut unterschiedlichen Studien die Nutzung privater Pkws in Europas Metropolen ab – und die Mobilität mit kollaborativen Angeboten wie Car-, Ride- und Bike-Sharing, mit Bussen und Bahnen, Elektro-Flitzern, Rädern und Scootern messbar zu. Auch Future Mobility Experte, Partner und Co-Autor der MHP Mobility.OS Studie Marcus Willand kommt auf das gleiche Ergebnis:„Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sinkt, das zeigen auch unsere Meta-Analysen:weltweit wird dieser bis 2030 von heute 81% auf 61% zurückgehen. Der Anteil geteilter Mobilität steigt entsprechend“.
„In unserer vermeintlichen Autoaffinität verpassen wir noch den Anschluss.“ Ein Stadtstaat wie das autokratische Singapur habe sich längst entschieden, den Individualverkehr zu minimieren und auf schicke, günstige U-Bahnen und Busse zu setzen. „Jeder, der dort ein eigenes Auto fahren will, muss seine Lizenz verdammt teuer erstehen“, sagt Knie. Selbst in amerikanischen Metropolen wie New York, Chicago, Austin oder Los Angeles sei das Privatauto ein Auslaufmodell. Stadtautobahnen würden zurückgebaut – zugunsten neuer Wohnquartiere und Parks. „Eine Stadt ist dann lebenswert“, sagt der legendäre Kopenhagener Architekt und Stadtplaner Jan Gehl, „wenn sie das menschliche Maß respektiert und nicht mehr im Tempo des Automobils tickt.“
Die Treiber der mobilen Trends
Die Treiber der mobilen TrendsSpricht man mit Verkehrsexperten, Stadtplanern und Zukunftsforschern, werden fünf Megatrends deutlich, die die Wende zur neuen urbanen Mobilität vorantreiben:
Die Corona-Pandemie hat vielen Menschen gezeigt, dass sie ihren beruflichen und familiären Alltag auch anders organisieren können als bisher. Homeoffice und Online-Konferenzen ersetzen viele Wege.
Klimaschutz ist in Politik und Industrie angekommen: Europa und die USA wollen bis 2050 klimaneutral sein, deutsche Autokonzerne ab Mitte der 30er Jahre keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr bauen.
Landflucht treibt das Wachstum der Metropolen an. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben heute mehr als die Hälfte der acht Milliarden Menschen in urbanen Lebensräumen. Bis 2050 wird ihr Anteil auf fast 70 Prozent steigen. Staus, Verkehrskollaps und Emissionen belasten die Menschen – während die Städte eigentlich mit hoher Lebensqualität um die besten Köpfe wetteifern müssten.
Neue Technologien sorgen für weitere Quantensprünge: Digitale Möglichkeiten wie KI, Blockchain und 5G machen immer mehr Sharing-Modelle, autonomes Fahren, Vernetzung und smarte Mobilität überhaupt erst möglich.
Die Bedeutung des Autos als Symbol für privates Glück und berufliches Vorankommen schwindet: Wachsende Teile der Stadtbevölkerung – und nicht nur Millennials – verzichten auf ein Auto, zumindest auf den Zweitwagen. Mobilitätsbudgets ersetzen den Dienstwagen.
Neuer Mut für neue Wege
Neuer Mut für neue WegeDeutschland wartet noch auf den Durchbruch. In Berlin, Hamburg, Stuttgart und München herrscht zwar ein dichtes Gewimmel an neuen Mit-Fahr-Optionen, doch der Abschied vom eigenen Auto mit Verbrennungsmotor fällt Pendlern und Planern nach wie vor schwer. „Technisch ist heute vieles möglich“, sagt Thomas Schaefer, Mobilitätsexperte bei MHP. „Entscheidend ist jedoch, Mehrwerte für die Menschen zu erzeugen und Verhaltensänderungen noch mehr zu motivieren.“
Der Senior Manager war CIO der Deutschen Bahn Connect und berät heute Städte und Verkehrsunternehmen auf ihrem Weg zu mehr Lebensqualität in der Stadt. In seinen Gesprächen mit Kommunen appelliert er, mutige Wege zu gehen und dem Vorbild europäischer Metropolen zu folgen. Rund um Luxemburg beispielsweise, das jeden Tag unter massiven Pendlerströmen ächzt, sind Park&Ride-Plätze und Mobilitäts-Hubs für den Umstieg entstanden, seit das Großherzogtum den ÖPNV massiv erweitert hat: Eine Straßenbahn wurde aus dem Boden gestampft, Elektrobusse eingeführt und das Fahren in Bus, Zug und Tram auf nationalem Gebiet kostenfrei – für Einwohner ebenso wie für Grenzgänger und Touristen.
Und der Wandel geht weiter. Nach autonomen Robotaxis sind Sharing-Fahrzeuge geplant, die beim Kunden auf App-Ruf vorfahren.Sie machen das eigene Auto überflüssig und brauchen keinen innenstädtischen Parkplatz mehr.Daneben verkehren weltweit immer mehr autonome Shuttle-Busse – kosteneffizient, flexibel und ohne starre Fahrpläne. Allein das französische Unternehmen EasyMile hat schon an weltweit mehr als 300 Standorten fahrerlose Shuttle-Services gestartet. Mit On-Demand-Pendeln und Ridepooling bieten sie auch eine neue Chance für die Anbindung ländlicher Regionen. Laut der Smart-City-Studie des Branchenverbandes Bitkom testete 2020 jede vierte deutsche Großstadt Pilotprojekte mit autonomen elektrischen Shuttles.
Jede zweite Großstadt erprobt zudem intelligente Ampeln, die auf Verkehrsströme reagieren und intelligente Straßenbeleuchtungen, die über Sensoren, WLAN und Steckdosen für E-Autos verfügen. Ein Drittel der Großstädte führt das Smart-Parking ein, bei dem eine App zur nächsten freien Parklücke navigiert – solange noch Parkplätze benötigt werden. Simulationen zeigen, dass eine Flotte autonom fahrender Robotaxis nur noch ein Zehntel der Fahrzeuganzahl benötigen würde wie derzeit. „Die spannende Frage ist“, schränkt Daniel Krajzewicz, Leiter der Abteilung Mobilität und urbane Entwicklung am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ein, „wie viele Menschen wirklich auf ihr Auto verzichten, wer sich das Angebot leisten kann und ob mit autonomen Autos nicht noch viel mehr gefahren wird – gerade weil es so bequem ist.“
Das Ökosystem der Dienstleister
Das Ökosystem der DienstleisterDie Wirtschaftspsychologin Sophia Rödiger war Transformationsexpertin bei Daimler Mobility, dieses Jahr gründete sie ein Tech-Startup mit Mobility Fokus: bloXmove. Rödiger sagt: „Entscheidend für den Umstieg vom Auto wird sein, dass wir als Alternative eine lückenlose Unkompliziertheit bei der Buchung und Nutzung neuer Mobilität anbieten. Sie muss es den Leuten leicht machen, aufs Auto zu verzichten.“
BloXmove bietet eine dezentrale Blockchain-Technologie, die mit einem Plug-In verschiedenste Mobilitätsdienstleister vom kleinen Scooter bis zur Bahn zu einem Ökosystem verbindet. Weil alle Anbieter samt ID-Verifikation und ePayment im infrastrukturellen Hintergrund gekoppelt sind, können die Partner voll integrierte Ende-zu-Ende-Reisen anbieten – mit ihrer App und einem Ticket. Zu Pilotpartnern des neuen Netzwerks gehören 50Hertz und weitere bekannte Firmen. „Irgendwann wird Mobilität auch mit der jeweiligen Stadt vernetzt sein – mit ihren Kinos, Restaurants, Museen und Energieanbietern“, sagt Rödiger. „Mobilität und Immobilität werden immer mehr zusammenwachsen – Städte werden mehr zu vernetzten, bewegten Organismen.Das unterstreicht auf Willand: „Die mobilen Kund*innen wünschen sich vernetzte, intermodale Mobilitätsangebote, die über einen einheitlichen, digitalen Zugang erreicht werden können. Nur ein einziges Mal 5 die eigenen Daten und Bezahlmöglichkeiten hinterlegen, die dann alle Anbietenden zur Abwicklung nutzen – das ist der unmissverständliche Wunsch, der nur durch branchenübergreifende Kooperationen realisiert werden kann“.
Entscheidend ist:Je weiter der Autoverkehr schrumpft, umso mehr Luft gewinnen die staugeplagten Städte zum Atmen.Autospuren weichen Fahrradhighways und Fußwegen, Bushaltestellen werden zum Tor ins smarte Mobilitätsnetz, Tankstellen machen Platz für Ladeparks und Mobilitäts-Hubs, an denen man Lastenräder und Elektroautos ausleihen kann. Stellplatzpflichten werden abgeschafft und Parkhäuser zu Appartements umgebaut.
Künftig könnten auf ihren Dachflächen sogar Vertiports für Flugtaxis entstehen. Ehang aus China und Volocopter aus Deutschland testen erste Modelle in der Praxis. Bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris will Volocopter im Einsatz sein.
Mehr Beinfreiheit zum Leben
Mehr Beinfreiheit zum Leben Beispiele der Rekultivierung sehe man in alten Häfen wie dem Rotterdamer Viertel Katendrecht, in Kopenhagens Nordhaven und in Antwerpens Schipperskwartier, in der Hamburger Hafencity und der Bremer Überseestadt. „Wo früher die Globalisierung ihre Schattenseiten zeigte, entstehen Cafés, Bars, Restaurants und viel Raum für die Menschen.“ Im großen Maßstab könne man dies auch auf dem Tempelhofer Feld in Berlin beobachten: Wo früher Flugzeuge starteten und landeten, ist einer der größten urbanen Freiräume der Welt entstanden. Und die Berliner bespielen ihn mit großer Freude.
Knie erwartet, dass sich die Städte wieder neu erfinden.„Wir werden Wohnen, Arbeit und Vergnügen räumlich kompakter organisieren. Wir werden eine neue Pop-up Kultur erleben, Provisorien für temporäre Radwege, Fußgängerzonen oder Biergärten anlegen und im Erfolgsfall dauerhaft einführen.“Dahinter steht die Vision der 15-Minuten-Stadt, in der alles Notwendige binnen einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Rad zu erreichen ist. „Die Städte werden sich verändern“, sagt Knie, „so wie sie sich immer verändert haben.“
Outro
Sven Heitkamp
Sven Heitkamp, freier Reporter und Texter aus Leipzig. Entdeckt, was Startups Neues tun und lernt, wie Großunternehmen ticken. Recherchiert Gesellschaftstrends und Familiengeschichten.
Der Weg vor Uns
Wohin die Reise beim autonomen Fahren geht. Eine aktuelle Wegbestimmung für die Jahre 2020 und 2030.
Intelligente Bürger, lernende Stadt
Wie Städte überall auf der Welt will San José das Leben seiner Bürger mit digitalen Technologien angenehmer, sicherer und nachhaltiger gestalten.
WeTalkData — Mobility.OS
In der neuen WeTalkData Studie 2021 von MHP Management- und IT-Beratung GmbH und Motor Presse Stuttgart erfahren Sie, wie Mobility Operating Systems zukünftige Mobilität organisieren und warum Regulierung und Digitalisierung die Schlüssel für eine nachhaltige Mobilitätswende sind.