Intelligente Bürger, lernende Stadt
Text: Helene Laube | Lesezeit: ca. 18 MinutenIntelligente Bürger, lernende StadtWie Städte überall auf der Welt will San José das Leben seiner Bürger mit digitalen Technologien angenehmer, sicherer und nachhaltiger gestalten. Besuch bei einer kalifornischen Millionenstadt, die versucht, den Fortschritt vorauszuplanen und beginnt um- bzw. neuzudenken.
KAPITEL 1 – Die Stadt
KAPITEL 2 – Das Multi-Stakeholder-Modell
KAPITEL 3 – Die Projekte der zwei Geschwindigkeiten
KAPITEL 4 – Company Towns
Immer neue Technologien sollen Städte auch bei zunehmender Verdichtung effizienter, nachhaltiger und lebenswerter machen. Smart City ist das Schlagwort in der Stadtplanung, also die digitale und datenunterstützte Vernetzung und Steuerung städtischer Infrastrukturen und Prozesse.Gerade in San José, würde man meinen, sollte der Ausdruck in aller Munde sein. Schließlich nennt sich die Stadt mit gut einer Million Einwohnern die „Hauptstadt des Silicon Valley“, jener Region an der kalifornischen Pazifikküste also, die nicht nur eine hohe Dichte an technikaffinen Menschen aufweist, sondern vor allem auch an Unternehmen, die Technologien für die Digitalisierung des Lebens entwickeln.
Kip HarknessStellvertretender Stadtdirektor von San José, Kalifornien, USA
Der Auftrag sei, aus San José vor allem eine Stadt zu machen, die ständig lerne, sich verbessere und verändere.
Harkness sitzt in seinem Büro im 17. Stock des vom Star-Architekten Richard Meier entworfenen Rathauses in der Innenstadt von San José. Von hier aus hat er einen unverbauten Blick über die Stadt bis hin zum Diablo-Gebirge im Osten. Harkness war bis vor gut einem Jahr beim ebenfalls in San José beheimateten Online-Bezahldienst Paypal tätig, heute ist er bei der Stadt für Innovation und die Planung und Umsetzung der digitalen Strategie verantwortlich.Direkt über ihm, in der obersten Etage, regiert San Josés Bürgermeister Sam Liccardo. Liccardo gab 2016 die Devise aus, dass San José nach einem Jahrzehnt finanzieller Not mit tiefen Einschnitten und massiven Stellenstreichungen bis 2020 Amerikas innovativste Stadt werden will.
Die Stadt
Die StadtIn welchen Städten wir morgen leben werden – das Lebenswerte und Nachhaltige – ist nicht nur schwer in die Praxis umzusetzen. Es ist auch schwer zu planen, vor allem wenn der Innovationsstand sich permanent verändert.
Wie viele Städte auf der ganzen Welt hat San José jede Menge Ideen für die Digitalisierung der Stadt, das meiste ist noch „Aspiration“, sagt Harkness.Eine realisierte Smart City gibt es auch hier, wie fast überall, nur in Ansätzen. Aber das Ziel steht fest: Technologien und eine datengestützte Entscheidungsfindung sollen den Stadtplanern und Behörden helfen, die Stadt nachhaltiger, partizipativer, sozial inklusiver, sicherer, transparenter und für jedermann zugänglich zu machen.
Ins San José der Zukunft gehören etwa mit intelligenten Sensoren ausgerüstete öffentliche Verkehrsmittel und Infrastruktur, um die Sicherheit und den Verkehr zu optimieren.Ebenfalls auf der Liste: Der Einsatz digitaler Plattformen und intelligenter Infrastruktur, um die Bereitschaft und Reaktion der Rettungskräfte bei Erdbeben, Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen und Notfällen zu verbessern und mit Crowdsourcing die Einwohner in die Rettungsarbeiten einzubinden.Oder: Dashboards, wo Anwohner Informationen über ihr Viertel abrufen, Meldungen machen und kollektiv Probleme in ihrem Kiez lösen können. Den Stadtplanern schweben auch digitale Werkzeuge vor, mit denen Probleme wie die grassierende Obdachlosigkeit und kaum vorhandener erschwinglicher Wohnraum angegangen werden können. Um sich nicht im Dickicht eines ehrgeizigen Projektkatalogs zu verlieren, grenzt San José den Fokus auf drei Fragen ein, mit denen die Innovations-Roadmap auf immerhin 22 Projekte eingedampft wurde:
Bereitet ein Problem den Bürgern viel Kummer und Ärger?
Handelt es sich um etwas, das zu den Kernaufgaben der Stadt gehört?
Lässt sich das Problem im großen Umfang entweder mit Technologie oder Prozessverbesserung lösen?
Amerikas zehntgrößte Stadt kann aber nur lernfähig werden, wenn sie „drei Muskeln aufbaut“, betont Harkness:„Wir brauchen erstens entsprechend ausgebildete Leute, denn die einzusetzende Technologie wird von Leuten angetrieben, die sich für die Bürger engagieren und diese ins Zentrum all unserer Tätigkeiten rücken. Die Leute müssen zweitens bei der Entscheidungsfindung Daten einsetzen. Und sie müssen drittens ‚iterativ‘ arbeiten, also schrittweise vorgehen, um zu lernen und sich der echten Welt anzupassen. Bei uns kann sich keiner in einen Raum einsperren und der Welt zwei Jahre später ein Softwareprogramm vorsetzen.“
San José muss bei der Entwicklung und Umsetzung von Smart-City-Projekten zusätzliche Hürden nehmen, die man in der Hauptstadt des Silicon Valley kaum vermuten würde. Die Stadt liegt zwar im Herzen des Technologietals und in unmittelbarer Nähe der meisten der weltgrößten Technologiekonzerne wie die Google-Holding Alphabet, Apple, Cisco Systems, Facebook, Hewlett-Packard, Intel oder Oracle sowie von unzähligen Start-ups und anderen innovativen Firmen.San José – mit einer landesweit nur noch von San Francisco übertroffenen Einkommensungleichverteilung – ist jedoch gerade in technischer Hinsicht flächenweise Entwicklungsland.In der Stadt müssen ganze Viertel ohne Breitband-Internetzugang auskommen; rund zehn Prozent der Bevölkerung haben aus oft finanziellen Gründen keinen Breitbandanschluss in ihrem Heim oder haben gar keinen Computer. Dieser „digitale Graben“ wird nun in Zusammenarbeit mit Firmen wie Facebook geschlossen.
Das Multi-Stakeholder-Modell
Das Multi-Stakeholder-ModellWie viele Städte strebt San José die Einbindung aller Interessenvertreter in die Planung und Umsetzung der intelligenteren Stadt an. Zum Beteiligungsprozess unter Einbindung von Stakeholdern wie Einwohnern, Industrie, IT-Anbietern, Bauunternehmen und den Leuten in den eigenen Reihen gehören Gespräche, Workshops, Gemeindeversammlungen, laufende regionale Kommunikation sowie Kommunikation und Feedback-Möglichkeiten über soziale Medien und andere Online-Kanäle.
Die Stadt arbeitet schwer daran, ihr historisch „reaktives Verhalten“ abzulegen, sagt Dolan Beckel, Smart City Lead bei der Stadt. „Bisher lautete der Ablauf: Wir genehmigen ein Projekt. Wir legen los,“erklärt Beckel, der im Team von Kip Harkness für die Entwicklung von Smart-City-Strategien und entsprechenden Regeln und Vorschriften zuständig ist.
Grund für den verstärkten Einbezug der unterschiedlichen Parteien ist Beckel zufolge auch die Tatsache, dass die seit den 1950ern grundsätzlich gleichbleibende Infrastruktur sich mit den neuen Technologien rapide ändert. Eine Straßenlampe, die sich bis vor Kurzem kaum von einer Laterne im Paris des 19. Jahrhunderts unterschied, kann nun mit Sensoren und anderen digitalen Zusätzen wie Kameras und WLAN-Boxen aufgerüstet, durch Vernetzung in das Internet der Dinge (IoT = Internet of Things) eingebunden und so ein vermaschtes Netz (Mesh) für andere Stadtdienste spannen.
„Die Einwohner können von diesen Geräten profitieren, in dem sie dank Kameras und Sensoren etwa über Verkehrsstaus oder Schießereien informiert werden“, sagt Beckel. „Aber nun müssen wir auch mit den Städtern über Themen wie die Strahlungsleistung oder das Design drahtloser Geräte und natürlich die Datensammlung und den Datenschutz kommunizieren.“
Mit dem Übergang von Infrastruktur der vergangenen zwei Jahrhunderte zu einer mit digitalen und anderen Technologien ausgerüsteten Infrastruktur des 21. Jahrhunderts wird die Kommunikation mit den Bewohnern und anderen Stakeholdern weiter zunehmen müssen, so Beckel weiter: „Wir müssen sicherstellen, dass jedermann vor allem unsere Sicherheits- und Datenschutzrichtlinien versteht und unterstützt“, so Beckel. San José wolle mehr auf die Anliegen der Anwohner hören und weniger auf die IT-Anbieter, die ihre Smart-City-Technologien mit viel Marketingaufwand bewerben.
Eine „wirklich intelligente Stadt“ blickt Chris Conley, der Anwalt von der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU), zufolge sowieso über die Hochglanzbroschüren hinaus, um technische Initiativen und das Vorgehen festzulegen. In diesem multilateralen Miteinander muss an allen Stellen viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Und was San José an Smart-City-Lösungen realisieren will, wird naturgemäß nicht alle zufriedenstellen, weiß Rob Lloyd, der Chief Information Officer (CIO) der Stadt.
„Das wichtigste Element bei der Einbindung der Gemeinde ist eine Vielfalt an Stimmen, die die unterschiedlichen Einwohnergruppen repräsentieren – einschließlich Minderheiten, Einwanderern, einkommensschwachen Bewohnern und solchen, die andere Auffassungen vom Kosten und Nutzen solcher Initiativen haben könnten“,so Chris Conley.
„Einige Stakeholder werden investieren müssen und nie etwas rausbekommen. Andere werden sich vernachlässigt fühlen, weil sie auf eine für sie nützliche Lösung warten müssen“,soweit Rob Lloyd.
Die Projekte der zwei Geschwindigkeiten
Die Projekte der zwei GeschwindigkeitenDer Wandel wird auch durch das schnelle Tempo der technologischen Entwicklung erschwert.
„Unsere IT-Leute können kaum Schritt halten, und unsere Kunden sowieso nicht“, sagt Lloyd. San José müsse Wege finden, nicht nur die IT-Mitarbeiter auf dem technologisch Laufenden zu halten, sondern auch alle Nutzer und die Manager in der Stadtverwaltung. „Es ist fast so, als würden wir einen Porsche bauen, statt wie vorher einen Toyota – wir wollen hohe Performanz und Reaktionsfähigkeit, und dafür ist ein Motor nötig, der viel schwieriger zu betreiben ist als ein simpler Vierzylinder“, so der CIO. Um zu verhindern, dass die Stadtentwicklung und einzelne langfristige Projekte vom rasanten technischen Fortschritt überholt werden und kaum flexibel auf neue Innovationen reagiert werden kann, kauft San José laut Lloyd keine IT-Produkte mehr, sondern in Technologie-Ökosysteme integrierte Plattformen, in die immer neue Dienste und Prozesse eingebaut werden können.
„Plattformen und Ökosysteme mit vielen Partnerschaften geben uns eine gewisse Sicherheit, dass immer neuen Funktionalitäten Rechnung getragen und eine gewisse zeitliche Lebensfähigkeit garantiert wird“, erklärt Lloyd. „Wir bleiben nicht an einem einzelnen IT-Anbieter und Produkt hängen, was uns daran hindern würde, andere Lösungen zu nutzen.“Das Motto sei, scherzhaft ausgedrückt, “serielles Dating, nicht Ehe”.
Ein Beispiel ist das Internet der Dinge, in das San José viel Geld investieren will. IT-Anbieter, deren Technologie nicht das gesamte IoT-Register abdeckt oder in andere Lösungen integriert werden kann, haben bei Lloyd keine Chance.„Es gibt intelligente Lichtmasten, intelligente Mülleimer, intelligente Kanalschächte und mehr – die müssen alle irgendwie in das gleiche System eingebaut werden, und dafür brauchen wir Lösungen.“Diese müssen auch in Zukunft möglichst viele Optionen und Wachstum ermöglichen.
Die Basis der Technologie-Infrastruktur sollen eine Plattform und ein Datenbestand bilden, die sich über die dutzenden städtischen Abteilungen der Stadtverwaltung erstrecken. Manche Entscheidung über technische Veränderungen wird über die nächsten 20 Jahre Auswirkungen haben, sagt Kip Harkness, und kann deswegen nicht von einem einzelnen IT-Manager in einer Abteilung getroffen werden.„Wir müssen sehr sorgfältig entscheiden, vor allem, wenn es um Pfadabhängigkeiten geht, die uns daran hindern werden, andere Richtungen einzuschlagen.“
San José tut sich bei einigen innovativen Projekten auch mit Start-ups und Großunternehmen im Silicon Valley zusammen. Etwa bei selbstfahrenden und vernetzten Fahrzeugen, die, so Harkness, die Transportart der Zukunft in Nordamerika seien.„Wir haben noch keine Ahnung, wie sich diese Technologien auf die Form und die Verwaltung der Städte auswirken werden“,sagt der stellvertretende Stadtdirektor. „Jetzt experimentieren wir zusammen mit den Firmen und vielen intelligenten Menschen, die auch nicht viel mehr wissen. So lernen wir hoffentlich, was es heißt, wenn man das Auto nicht mehr parken muss, weil es wegfährt und sich selbst parkt oder man kein eigenes Auto mehr braucht, weil bei Bedarf ein Roboterauto auftaucht.“
Leuten wie Michael Steep, dem Direktor des „Digital Cities Program“ an der Stanford University im Silicon Valley, ist das alles noch zu langsam. Ziel von Steeps 2016 gestarteten Digital City Program ist es, „fundamental zu ändern“, wie Unternehmen und Stadtregierungen auf dem Weg hin zu digitalisierten Ballungsgebieten denken und vorgehen.
„Vor allem in US-Städten herrschen politische Strukturen der 1930er- und 1940er-Jahre vor, in denen kaum darüber nachgedacht wird, wie die Rolle der Regierung neu definiert werden könnte“, behauptet der ehemalige Microsoft-Manager und Mitarbeiter des Xerox-Forschungszentrums PARC. „Städte sind derart rigide strukturiert, dass sie viel zu langsam oder gar nicht auf neue Technologien reagieren und kaum in der Lage sind, ihre Beziehungen zu den Technologiekonzernen zu managen.“
Er propagiert vielmehr die Macht der Kunden und Konsumenten – die „Demokratisierung von Technologie“. „Verbraucher und Verbrauchernachfrage können politische Imperative bezwingen”, sagt Steep, der auch Mitglied des Beratungsausschusses „Smart London Board“ war, das den Bürgermeister der britischen Hauptstadt bei der Smart-City-Strategie hilft. Er nennt das Beispiel des in San Francisco beheimateten Fahrdienstvermittlers Uber, der auch den Einsatz von selbstfahrenden Autos und LKWs plant.