Digitalization X Sustainability
Lesezeit ca. 15 Min.
Die Digitalisierung unserer Wertschöpfungs- und Lieferketten schafft neue Möglichkeiten, den Ressourcen-Einsatz zu reduzieren und durch bessere Organisation den Klimaschutz zu verbessern. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn wir digitale Technologien verstehen und gestalten. In beinahe allen anderen Branchen etablieren sich digitale Vorhersagesysteme und intelligente, digitale Integration. Navigationssysteme sagen optimale Strecken vorher und sorgen für weniger Kraftstoffverbrauch durch weniger Autobahnstaus. Smart Homes wissen im Voraus, wann ihre Bewohner den meisten Strom abnehmen werden und sorgen dafür, dass dann die Akkus in der Garage – geladen von der PV-Anlage auf dem Dach – voll sind. Dezentrale Einheiten, die erneuerbare Energien liefern, sind serienreif geworden, steuern und koordinieren sich zunehmend selbst.
Auch in der Lebensmittelbranche führt der digitale Wandel zu mehr Nachhaltigkeit. So wandern jede Nacht um 22:00 Uhr wandern mehrere Millionen Datensätze der Supermarktkette Kaufland zu einer Firma namens BlueYonder in Karlsruhe. Es sind die Verkaufsdaten aus dem abgeschlossenen Tagesgeschäft sämtlicher Registrierkassen aller 1.350 Kaufland-Märkte. Sie setzen zusammen täglich rund 73 Millionen Euro um. Und das verteilt auf insgesamt etwa 80.000 Artikel. Aus den verschickten Daten erfährt Kaufland nicht nur, wie hoch Tagesumsätze, Lagerbestände oder Liquidität sind. Die Daten, die nach Karlsruhe wandern, füttern eine Art digitale Kristallkugel.
Was auf den ersten Blick wie eine gigantische Überwachungs-Maschinerie aussieht, könnte einer der Schlüssel zur Lösung unseres Klimaproblems sein. Es könnte helfen, den Ressourcenverbrauch in Industrie, Handel, Logistik und Transport erheblich zu verringern. Weniger an die falsche Stelle gelieferte Waren, weniger gefahrene Kilometer, weniger Überhänge. Und schließlich: Weniger Lebensmittel, die in den Regalen verderben und am Ende weggeworfen werden müssen. BlueYonder im badischen Karlsruhe soll das ermöglichen. Das Unternehmen wurde vor mehr als zehn Jahren als Spinoff der dortigen Hochschule gegründet und zählt nach mehreren Übernahmen durch US-Softwarefirmen mittlerweile zu den Weltmarktführern für Prognosesysteme im Einzelhandel. Die täglichen Verkaufsdaten werden mit vielen weiteren Daten zusammengeführt:
Aus all diesen Informationen berechnet BlueYonder eine Prognose. Sie besagt, welche Produkte in welcher Stückzahl morgen, übermorgen und kommende Woche mit großer Wahrscheinlichkeit verkauft werden. Etwa, wie viele Packungen Milch einer Marke in einer Filiale in Berlin in den nächsten Tagen über die Scannerkassen wandern werden. Oder Äpfel, Wurst, Haushaltswaren, praktisch das gesamte Sortiment der Kette, insgesamt rund 80.000 Artikel. Die Prognosen, die BlueYonder errechnet, treffen zu 73 Prozent zu, bei 27 Prozent liegen die Software-Ingenieure noch daneben. Doch das soll sich rasch ändern. Rund eine Woche können die Analysten mit dieser Trefferwahrscheinlichkeit im Augenblick in die Zukunft schauen. Dann nimmt die Genauigkeit der Vorhersagen rapide ab. Doch das reicht auch, um die Logistik und das Warenangebot entsprechend anzupassen.
Die biedere Supermarktkette zählt damit zu den innovativsten Handelsketten der Welt. Sie zeigt aber auch, dass moderne Technologien und ihre Methoden, dass maschinelles Lernen und das, was man hierzulande als „künstliche Intelligenz“ bezeichnet, bereits Einzug in unseren Alltag gehalten haben. Und nicht nur das: die Prognose-Systeme befinden sich nicht mehr im Teststadium. Sie sind bereits produktiv und steuern auch die Logistik zunehmend selbständig. Auch die vorgelagerten Gewerke und Industrien in der Lebensmittelbranche sind davon betroffen: Handel, Logistik und Lebensmittelindustrie integrieren sich im Augenblick ebenfalls digital.
Das Ziel: Gelingt es, künftige Bedürfnisse direkt in die Industrie und die Logistik zu „rooten", kann dort bedarfsorientierter produziert werden und der Transport bedarfsorientierter liefern.
Das Versprechen: weniger Lebensmittel, die weggeworfen werden müssen, weniger Waren, die an falschen Orten landen, weniger Lager, weniger Transport, weniger Kühlung, weniger Um-, Transport- und Neuverpackung, weniger Ressourcen, weniger CO2.
Nicht nur die Lebensmittelbranche
Digitale Technologien scheinen der Schlüssel zur globalen Nachhaltigkeit. Schließlich stellten etliche Studien fest: Erst durch Digitalisierung und die digitale Integration der größten Treibhausgasemmittenten – 93 % – wird Nachhaltigkeit realisierbar. Mit insgesamt 93 % sind die größten Treibhausgasemmittenten:
In der Landwirtschaft
In der Landwirtschaft übernehmen ebenfalls digital gesteuerte und digital vernetzte Geräte: Sie sorgen z. B. dafür, dass mit den eigenen Standortdaten, den Daten von Sensoren im Ackerboden, mit aktuellen Wetterdaten und der Wettervorhersage, mit Bildern von Drohnen und ganz speziell mit den Aufnahmen von Satelliten, die alle 24 Stunden, also praktisch in Echtzeit, Felder und Agrarflächen überwachen und analysieren können, eine ganz neue Art von Landwirtschaft praktiziert werden kann und neues, bislang nicht zugängliches Wissen erschlossen wird.
Anhand technischer und automatischer Interpretation von Bilddaten Aussagen über den Wachstumsverlauf von Pflanzen treffen zu können, ist beispielsweise mittlerweile ein Standard-Produkt. Das gilt auch für Aufnahmen, die von einer Umlaufbahn im Weltall aus gemacht werden. Damit kann man z. B. Flächen mit gleichen Boden- und Klimabedingungen miteinander vergleichen und herausfinden, was Landwirte mit größeren Erträgen trotz geringerem Energie- und Pestizid-Einsatz besser machen als Landwirte mit weniger guten Kennzahlen. Damit steht auf einmal ein globales Benchmarking zur Verfügung.
Mit dieser Entwicklung ändert sich auch die Logik der Landwirtschaft. Denn der Acker oder das Feld gilt nun nicht mehr als geschlossene Einheit, in der jeder Quadratmeter gleich behandelt wird. Die Ackerfläche kann immer stärker aufgegliedert werden. Jetzt weiß die Maschine, an welchen Stellen es immer ein wenig zu feucht oder zu trocken ist, wo der Boden fruchtbar oder nicht ganz so fruchtbar ist, wo man demnach etwas mehr oder etwas weniger Dünger einbringen sollte. Die Maschinen wissen, wieviel Dünger jeder einzelne Quadratmeter braucht und entscheiden selbstständig. Das gilt auch für den Pflanzenschutz. So können etwa feuchte Stellen, an denen gerne Pilzbefall ausbricht, gezielt behandelt werden – anstatt das ganze Feld einzunebeln.
Autonome Roboter machen sich, geschult durch Maschinelles Lernen, selbstständig auf die Suche nach Schädlingen und erlegen sie mechanisch oder per Laserstrahl. Damit wird das unrentable Absammeln von Schädlingen, von dem die Großeltern erzählen, die im Sommer die Kartoffelkäfer von Hand ablesen mussten, wieder rentabel. Für den Gemüseanbau bieten französische und australische Hersteller bereits serienmäßig ganze Flotten von Kleinrobotern von der Größe eines Aufsitzrasenmähers. Aus diesem Grund werden wir in den kommenden Jahren den Übergang von der Flächen- zur Einzelpflanzenbehandlung, vom Herden-Management zum Einzeltier-Management erleben. Doch der Landwirt, der zur Sicherheit noch eine Weile mit auf dem Traktor sitzen wird, weiß gar nicht mehr, was genau seine Maschine jetzt macht. Sie entscheidet selbst, wo welche Dosis Dünger oder Pflanzenschutzmittel ausgebracht wird. Und so steht die Fragen im Raum, ob die Landwirte die technischen Uber-Fahrer dieses Jahrzehnts werden.
Doch ganz gleich wie man die Plattformisierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft bewerten möchte: Der richtige Einsatz moderner Technologie kann – bei allen damit verbundenen Gefahren – ein Teil der Lösung für eine nachhaltige, ökologische, weniger klimaschädliche und damit zukunftsfähige Landwirtschaft sein.
Medien, Social Media und Suchmaschinen
Auch Medien, Suchmaschinen und praktisch alle Social Media-Plattformen sagen mittlerweile das Verbraucherverhalten mit solchen oder ähnlichen Systemen vorher. Das mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen und ein gut auf den Nutzer eingespielter Vorschlags-Algorithmus könnte durchaus als Nutzen empfunden werden. Doch ist das so?
Wenn Facebook etwa auf Basis meines Surf- und Klick-Verhaltens zu dem Schluss kommt, dass ich in den nächsten sechs Wochen mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Diät beginnen oder ein Auto kaufen werde, dann wird mir die Plattform – und auch andere Plattformen, die mit meinen Cookies arbeiten – immer stärker Werbung und Informationen über Diätprogramme oder neue Fahrzeuge anzeigen. Wenn ich nun immer häufiger Diät-Werbung begegne, steigt wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass ich tatsächlich eine Diät beginne – oder ein Auto kaufe. Die KI, die eigentlich meine Inhalte stärker auf meine Bedürfnisse anpassen soll, manipuliert nun mein Verhalten.
Der US-Autor Douglas Rushkoff fragt etwa:Was passiert mit den restlichen 20 Prozent? Schleift diese Technologie bestimmtes abweichendes, überraschendes oder unerwartetes Verhalten nicht systematisch ab? Führt das nicht dazu, dass zwei Wochen später aus den 80 Prozent schon 85 geworden sind und weitere zwei Wochen später dann 95 Prozent?
Autoren wie George Orwell und Aldous Huxley haben in ihren Büchern Dystopien entworfen, in denen die Menschen wenigstens merkten, dass sie manipuliert werden. Diese neue Manipulation bemerken wir erst gar nicht – und wenn, dann an in erster Linie an den Symptomen wie etwa einer zunehmenden gesellschaftlichen Entsolidarisierung. Wir befinden uns mitten in diesem im Transformationsprozess, der nahezu alle Bereiche unseres Lebens betrifft. Dieser Technologiesprung macht Verfahren, die viele bislang für Science-Fiction gehalten haben, zu Standardanwendungen. So wird z. B. Künstliche Intelligenz zur Basistechnologie dieses Jahrzehnts. Und wie immer bei Technologie: Sie eröffnet genauso Chancen, wie sie Probleme verursacht.
Neue Technologien sind kein Zauberpulver
Die neuen Technologien sind weder eine Art Zauberpulver, das man einfach über alle Probleme streut, die sich daraufhin zum Guten wenden: Die Lebensmittelverschwendung verschwindet. Die konventionelle Landwirtschaft – aus heutiger Sicht ein Auslaufmodell – findet zur Nachhaltigkeit. Klimaprobleme werden reduziert, Welternährung klappt, Nord-Süd-Gefälle wird ausgeglichen. Ganz so rosarot wird es nicht werden. Doch genauso wenig ist diese neue Technologie grundsätzlich verdammungswürdig, sofern man nicht leben möchte wie im 19. Jahrhundert.
In jedem technologischen Übergang zeigt sich dieser Dualismus: So wie die Industrialisierung neuen Wohlstand für viele gebracht hat und durch bessere hygienische Verhältnisse viele Krankheiten besiegte, sorgte sie aber auch dafür, dass Wohlstandskrankheiten sich wie Seuchen ausbreiteten, dass Ungerechtigkeit und Ausbeutung in vielen Bereichen dieser Erde zementiert wurden oder noch drastischer wurden. Letztendlich hat sie uns dahin gebracht, dass unser Planet heute praktisch ganz kurz vor dem Kollaps steht oder – zutreffender gesagt – sich bereits mitten darin befindet.Denkt man die erste Digitalisierung zu Beginn der Zweitausendnuller Jahre ebenfalls als Technologiesprung, dann hat uns diese Veränderung den Plattform-Kapitalismus, die weitere Entwertung von einfacher Arbeit, eine kleine Anzahl dominanter Tech-Monopole, einen schrumpfenden unternehmerischen Mittelstand und entleerte Innenstädte eingebracht – und keine wesentliche Verbesserung der ökologischen, klimatischen und sozialen Situation auf der Erde.
Die Ursachen für diese Probleme liegen dabei nicht nur in mangelnder Demokratie, zu wenig sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen, Machtmissbrauch, Korruption, rücksichtsloser Ausbeutung von Ressourcen usw. – sie liegen auch darin, dass wir diese technologischen Übergänge in der Vergangenheit zu wenig oder gar nicht gestaltet haben.
Nur steht diesmal noch mehr auf dem Spiel: Denn zu den alten, immer drängender werdenden Problemen kommen neue, die mit Überwachung, Social Scoring, diskriminierenden Algorithmen, Ausgrenzung und Polarisierung der Gesellschaft zu tun haben.
Zusätzlich trifft die aktuelle technologische Veränderung auf eine Zivilgesellschaft und eine politische Öffentlichkeit, die diese neuen Technologien kaum versteht und nicht sieht, wie umfassend sie bereits eingesetzt werden, welche Tragweite sie heute bereits haben, geschweige denn, welche Tragweite sie in der Zukunft haben werden. Unsere Debatte über diese neuen Technologien ist leider unterentwickelt, teilweise naiv, nicht selten populistisch und inkompetent.
Wenn alles digital vermittelt ist, dann ist das Digitale nicht mehr eine weitere Parallelwelt, wie etwa das Fernsehen, das man zur Not abschalten könnte. Dann ist es auch schon längst nicht mehr „Neuland“ oder Science-Fiction. Dann ist das Digitale eigentlich bereits im Kern unserer Gesellschaft. Dann gibt es nicht mehr die beiden getrennten Sphären von analogem und digitalem Raum. Diese Trennung verschwindet gerade. Und damit zählt das Digitale längst genauso zu unserem öffentlichen Raum wie unsere Plätze und Straßen.Und genau aus diesem Grund müssen wir den digitalen Raum genauso regulieren, wie wir unsere Plätze und Straßen reguliert haben.
Doch damit wir diese Themen in den politischen Willensbildungsprozess konstruktiv einspeisen können, damit wir in der Zivilgesellschaft und in der Politik kompetent darüber diskutieren können und damit wir zu klugen politischen Entscheidungen kommen, braucht es Know-how über diese neuen Technologien.Es geht also darum, diesen neuen Kern unserer Welt zu verstehen und zu gestalten. Und es ist höchste Zeit, damit anzufangen.
Mehr erfahren:
Die neue Sprache der Pakete
Seit wann können Pakete miteinander sprechen? Und in welcher Sprache? Seit wann können Lieferketten denken? Und können sie auch vorausdenken? Mit IoT verschmelzen Virtual Reality und Live Reality zu New Reality. Und was haben wir davon?
Der ewige Kreislauf
Was, wenn Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit kein Widerspruch sind? Sondern ein Geschäftsmodell? Was, wenn Circular Economy nicht nur eine Idee ist? Sondern eine Notwendigkeit? Wie Kreislaufwirtschaft dazu beitragen kann, den Planeten zu retten - wenn wir denn dazu bereit sind.
Olaf Deininger – Autor
Der Wirtschaftsjournalist und Digitalexperte blickt auf eine langjährige Erfahrung in leitenden Positionen zurück, unter anderem als Chefredakteur von „handwerk magazin“ (2014 bis 2020) in München.