Die neue Sprache der Pakete
Lesezeit: ca. 15 Minuten Die neue Sprache der PaketeWie Technologien die Zukunft der Logistik Wirklichkeit werden lassen – und warum die Lieferkette jetzt mitdenkt.
Der Marker ist nicht zu sehen – und er funkt.
Der Marker ist nicht zu sehen – und er funkt.
Der Marker ist nicht zu sehen – und er funkt: Wenn die Baumwollhemden des Amsterdamer Projekts „Fashion for Good“ am digitalen Sensor vorbeiwandern, identifiziert sich das Kleidungsstück. Und nicht nur das: Seine komplette Produktgeschichte ist in dem unsichtbaren Marker, der wie eine Farbe aufgebracht wurde, in Form von Daten hinterlegt – von der Plantage über die Weiterverarbeitung bis zur Auslieferung. Und zwar fälschungssicher. „Fashion for Good“ ist ein Konsortium mehrerer Unternehmen, darunter die C&A Foundation, Kering und Zalando sowie Technologiefirmen wie etwa Bext360 und Haelixa.
Die Initiative zeigt: Unsere heutige Auffassung von Logistik wird bald Geschichte sein. Bereits 2017 zeigte eine groß angelegte Umfrage des Branchenverbandes Bitkom, dass die große Mehrheit der Firmen in ihrer Logistik den Einsatz von Datenbrillen, Drohnen, autonomen Fahrzeugen und AI erwartet. Rund 80 Prozent nutzten zum Zeitpunkt der Umfrage bereits spezielle digitale Lösungen zur Organisation und Steuerung ihres Warentransports. Drei von vier Unternehmen werteten die Digitalisierung der Logistik als große Herausforderung.
Doch der Wandel ist bereits da
Doch der Wandel ist bereits da: Logistik gehört heute zu den Bereichen mit dem höchsten Digitalisierungsgrad.
„Die Digitalisierung bietet auch bei den sogenannten KEP-Diensten (Kurier-Express-Paket) wegweisende Lösungen, um die Effizienz zu steigern. So können zum Beispiel mit Hilfe intelligenter Algorithmen und Künstlicher Intelligenz Routenplanungen so optimiert werden, dass bis zu 20 Prozent Fahrtzeiten und -strecken eingespart werden, was sich wiederum direkt in Kosten- und Emissionsreduktion niederschlägt.“, sagt Marcus Willand, Partner und Experte für Mobilität bei MHP. Bereits 2015 begann DHL, die Picker in den Lagern mit sprechenden und hörenden AR-Brillen auszustatten, von denen sie praktisch gesteuert werden: Die Brille sagt, was als Nächstes an welchem Ort zu tun ist, auf den Gläsern wird der Weg dorthin angezeigt. Hat der Lagerarbeiter den entsprechenden Gegenstand auf seinen Wagen gelegt, sagt er „done“ und meldet dem Zentralsystem auf diese Art, dass es Route und Name des nächsten Gegenstands anzeigen soll. Solche AR-Brillen zählen mittlerweile weitestgehend zum Standard. Doch für manche gelten sie eigentlich als Brückentechnologie. Denn die Zukunft gehört der autonomen Lagerhalle.
Der Hersteller Boston Dynamics kündigte vor wenigen Wochen an, im kommenden Jahr den Lagerroboter „Stretch“ auf den Markt zu bringen. Rund 800 Pakete soll er pro Stunde bewegen können. Er kann Sendungen zusammenstellen, Waren ein- und ausräumen, LKW be- und entladen. Der Roboter besteht aus Modulen mit unterschiedlichen Funktionen: Fahren, Greifen, Rechnen. Dazu gehört eine selbstständige Orientierung im Raum genauso wie etwa das Wissen, was mit den entladenen Paketen geschehen soll. Zum Preis äußerste sich Boston Dynamics noch nicht. „Neu dabei ist: Der Roboter ist mobil und benötigt keine im Boden verankerte Infrastruktur“, erklärt Steffen Cords, Logistikexperte bei MHP. Das ermögliche einen flexiblen Aufbau, mit dem man vor allem auch für temporäre Lösungen und Lastspitzen, etwa an Aktionstagen wie „Singles’ Day“, „Black Friday“ oder für das Saisongeschäft zu Weihnachten puffern kann: „Unternehmen müssen agiler werden und dieser Roboter ist eine Antwort darauf“, meint Cords, „es geht um Flexibilität!“ Mit dem „Stretch“ verlässt Boston Dynamics außerdem den Bereich teurer Einzelfertigungen. Autonome Lagerrobotik wird damit zur Handelsware, zur Commodity, also zu einem ganz normalen und erschwinglichen Standardprodukt.
Das passt ins Bild.
Das passt ins Bild.
Bereits vor mehr als drei Jahren errichtete der Online-Supermarkt und Amazon-Konkurrent Ocado in der Kleinstadt Andover in der südenglischen Grafschaft Hampshire ein vollautomatisches Lager. Mehrere Dutzend wie Kühlschränke aussehende Roboter stellen dort die Warensendungen zusammen. Dazu bewegen sich die mit kleinen Rädchen ausgestatteten intelligenten Kisten über einen eigens dafür konstruierten Gitterrost. Die Roboter funktionieren so autonom, dass sie sogar während eines Brandes, der im Jahr 2019 nachts im Gebäude ausgebrochen war, inmitten von Flammen, Qualm und Rauch weiter ihre Sendungen zusammenstellten. Die eingetroffenen Feuerwehrleute hatten Mühe, den rollenden Kisten auszuweichen.
Doch auch in der Architektur der Lagergebäude scheint die Zeit der Einzellösungen vorüber.
Doch auch in der Architektur der Lagergebäude scheint die Zeit der Einzellösungen vorüber.
Firmen wie etwa das im israelischen Tel Aviv beheimatete Start-up Fabric oder das deutsche Unternehmen Mecalux bieten beliebig erweiterbare Lagerlösungen an, die sich samt unterschiedlichen Kühlzonen wie Lego-Steine zusammenstecken lassen. Reicht die Kapazität nicht mehr aus, können weitere Lagermodule „dazugesteckt“ werden. Sind dagegen zu viele vorhanden, werden die nicht benötigten ganz einfach zurückgegeben. Damit lassen sich beispielsweise unterschiedliche Bedarfe und Umschlagsmengen an Standorten ausgleichen, die etwa durch saisonale Schwankungen gekennzeichnet sind – wie Universitätsstädte während der Semesterferien oder Ferienorte außerhalb der Saison. Lagerlogistik wird ad hoc skalierbar.
Neue Fast-Delivery-Konzepte, wie etwa das Berliner Start-up Gorillas, versprechen Lebensmittellieferungen innerhalb von nicht mehr als zehn Minuten – einem Zeitraum, der kürzer ist, als man zum Anziehen von Schuhen und Mantel und zum Einstecken von Schlüssel und Portemonnaie braucht. Damit sie funktionieren können, brauchen solche Anbieter neue Logistiksysteme. Gorillas setzt auf ein System von kleinen, hyperlokalen Logistikzentren und Micro-Fulfillment-Centern als kleine, weitgehend automatisierte Lagerräume. Rentabel werden diese kleinen Einheiten durch eine konsequente digitale Steuerung sämtlicher Prozesse und durch modularen Aufbau. Damit steigen zwar die Initialkosten, gleichzeitig sinken aber der Personalaufwand und die laufenden Kosten.
„Erste Großstädte lassen es außerdem nicht mehr zu, dass schwere Sattelschlepper in ihre Innenstädte zum Entladen fahren“, berichtet Steffen Cords.Stattdessen müsse vor der Stadt umgeladen und die Ware auf viele kleine Lagerstätten, die Micro-Fulfillment-Center, verteilt werden. „Durch die Nähe zum Endkunden können Transportkosten gesenkt werden“, sagt Mecalux-Geschäftsführer Juan Maria Santos Veira. Das entlaste die Städte, die mittlerweile extrem unter dem Lieferverkehr leiden: „Die Lieferung auf der letzten Meile zu Fuß oder mit dem Fahrrad macht die Verwendung von Lieferwagen überflüssig.“
Zusätzlich sind Systeme zur Identifizierung von Waren oder Chargen in den letzten Jahren immer kleiner und preiswerter geworden. Bar- oder QR-Codes sind Standard, Tracking ebenso. Warenwirtschaftssysteme merken sich, wo sich welches Produkt gerade befindet. Das ging schon in der „alten“ Welt, in der Mitarbeiter mit Scannern oder Scanner-Stationen die Codes mit Licht abtasteten. RFID-Chips machen die Sache bereits einfacher, da sie ihre Anwesenheit selbst anzeigen und per Funk durchgeben, dass sie da sind. So lassen sich Transportabläufe immer stärker automatisieren. Doch die Entwicklung ist damit nicht abgeschlossen.
Sind die selbstklebenden RFID-Chips bereits kleiner als Kreditkarten, arbeitet das IBM Lab in Rüschlikon südlich von Zürich an digitalen Identifikationsmöglichkeiten, die wie Farbe einfach aufgesprüht werden. Diese sogar essbaren Krypto-Anker sind laut IBM „manipulationssichere digitale Fingerabdrücke, die in Produkte oder Teile von Produkten eingebettet und mit der Blockchain verknüpft werden“. Dem Einsatz sind kaum Grenzen gesetzt, schwärmt René Bostic, die Vizepräsidentin für KI-Anwendungen bei IBM in Atlanta. Salat, Reis oder Olivenöl könnten mit diesen flüssigen Codes besprüht oder vermengt werden. Damit sei jedes Produkt bereits bei seiner Erzeugung individuell, digital und vernetzt identifizierbar. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich: Herkunft, Art und Weise der Erzeugung und Verarbeitung lassen sich so preiswert digital dokumentieren und das Produkt kann auf dem Lieferweg jederzeit lokalisiert werden. Andererseits ist dieses Verfahren natürlich auch eine Black Box und es lässt nur solche Firmen am Markt teilnehmen, die über entsprechende Lesegeräte verfügen.
Das Blockchain-Projekt der „Fashion for Good“-Initiative aus Amsterdam zeigte bereits 2019, dass sich Bio-Baumwollfasern, besprüht mit einem unsichtbaren, auflösbaren Marker, mit Blockchain-Technologie von der Plantage bis zum fertigen Kleidungsstück verfolgen lassen. Die am Projekt beteiligte SaaS-Plattform Bext360 aus Denver, Colorado, bietet Blockchain-Rückverfolgbarkeit, quantifizierbare Messungen für Nachhaltigkeit und damit messbare Rechenschaftsfähigkeit für kritische Lieferketten. Bext360 konzentriert sich auf Produkte wie Kaffee, Meeresfrüchte, Holz, Mineralien, Baumwolle und Palmöl.
„Durch den Einsatz der Bext360 SaaS-Plattform und die Verknüpfung der verschiedenen Marker-Technologien ermöglichte das Projekt die Digitalisierung von Feldanwendungen, Farm-to-Retail-Transaktionen, Smart Tags und Marker-Daten und zeigte kritische Prozesse zur Verbesserung der Rückverfolgbarkeit und Effizienz der Lieferkette in allen Phasen auf“, erklärt Bext360 CEO Daniel Jones. Die Marker-Technologie schaffe in Verbindung mit der Blockchain-Tracking-Plattform eine robuste, vertrauenswürdige und unveränderliche Methode, um Lieferkettendaten auf transparente Weise aufzuzeichnen und mit Stakeholdern und Verbrauchern zu teilen.
Damit gewinnt aber auch eine „zweite Lieferkette“ künftig immer stärker an Bedeutung: der Weg des Produktes zurück zum Hersteller oder zu geeigneten Recyclingorten – vor allem dann, wenn die Ansprüche an die Nachhaltigkeit Hersteller wie Anwender zwingt, den gesamten Lebenszyklus eines Produkts zu betrachten. Firmen werden deshalb mehr Verantwortung über neue gewonnene Transparenz übernehmen müssen. So verändern die Ansprüche einer Kreislaufwirtschaft auch die Lieferketten. Mit der technologischen Entwicklung entstehen auch etliche neue Arten von Dienstleistungen. Wenn Produkte umfassend und automatisch identifizierbar sind, jeder Prozessschritt und vor allem das Routing digital organisiert sind, dann müssen Lager nicht mehr zwangsläufig von den Handelsfirmen betrieben werden, sondern könnten als Dienstleistung die Produkte unterschiedlicher Händler lagern und ausliefern. Die neuen Dienstleistungen lauten dann „Robotic as a Service“ oder „Kommissionierung as a Service“.
Damit organisiert sich Logistik zunehmend dezentral.
Damit organisiert sich Logistik zunehmend dezentral.
An die Stelle einiger weniger, mächtiger und schwerfälliger Lieferstränge treten intelligente, lernfähige und sich selbst optimierende Netzwerke, in denen sich Waren und Produkte über beinahe beliebige Wege routen lassen – oder, wenn sie anderswo dringender gebraucht werden, blitzschnell an eine andere Stelle verschieben lassen. Das macht etwa das Berliner Start-up SPRK.global. Es ist auf Lebensmittel spezialisiert, die bis zum Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr verkauft werden können. SPRK.global routet sie vom Einzelhandel dann automatisch dorthin, wo sie noch gebraucht werden können. Etwa in die Lebensmittelindustrie: Dort wird aus bald nicht mehr verkaufbaren Erdbeeren dann leckere Erdbeermarmelade.
Fazit
lntelligente und durch Algorithmen sowie KI optimierte Routenplanungen erlauben Einsparungen von bis zu 20 Prozent. Traditionelle schwerfällige Lieferstränge werden durch Logistiknetzwerke ersetzt, in denen sich Waren und Produkte über beliebige Wege in Echtzeit routen lassen und sich, wenn sie anderswo dringender gebraucht werden, blitzschnell an andere Empfänger verschieben lassen.Dafür ist es notwendig, dass Firmen in deutlich höherem Maße zusammenarbeiten als bisher. Erst Partnerschaften und tiefe Integrationen erlauben die Umsetzung dieser Konzepte.
Das Wunder der Logistik
Wie intelligente Systeme den globalen Warenfluss in jedem Moment an die Haustür lenken – und sogar hinein.
Homo Digitalis
Wie die Digitalisierung unser Leben, Denken und Sein verändern wird.
Olaf Deininger
Der Wirtschaftsjournalist und Digitalexperte blickt auf eine langjährige Erfahrung in leitenden Positionen zurück