Homo Digitalis
Lesezeit: ca. 15 Min.Im Zeitalter des Homo DigitalisWie wir morgen arbeiten, denken und unsere Welt sehen werden
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Epilog
EpilogWas kommt? Was bleibt?
Das wird umso wichtiger, als sich der digitale Fortschritt weiter beschleunigen dürfte. Veränderungen um uns herum werden in immer schnellerer Abfolge auftreten, weil die Algorithmen, die sie entwickeln, immer besser werden.
„Wir können uns die exponentiellen Veränderungen, die in der Zukunft auf uns warten, einfach nicht vorstellen“,
Während wir noch gebannt auf die nähere Zukunft starren und ihre technologischen Neuerungen zu verstehen suchen, überholt uns die fernere bereits mit Vollgas links und rechts. Das muss nicht schlecht sein, man muss es nur wissen.
Eine der augenfälligsten Eigenschaften, die den Homo Digitalis auszeichnen wird: Das Staunen – über den Fortschritt sowie unsere verblüffenden Fähigkeiten, sich diesem anzupassen.
Sehen
Sehen
Was wir gewinnen: Eine tiefere und zugleich individuellere Sicht auf unsere Welt (oder was wir dafür halten)
Was wir verlieren: Das gewohnte Verständnis für die Zusammenhänge unserer Welt (oder was wir dafür halten)
„Als die Dinger auftauchten, waren sie so cool. Erst als es schon zu spät war, haben die Menschen gemerkt, dass sie ungefähr so cool sind wie elektronische Fußfesseln.“David Mitchell, britischer Autor und Comedian, über Smartphones
„Sobald Ambient Technology perfektioniert ist, wird sie zu unserem ständigen Begleiter“, glaubt Albers.„Mixed Reality – also ein Mix aus der richtigen und der vom Rechner generierten Welt – wird in wenigen Jahren Mainstream sein.“
Das bedeutet aber auch: Wir verwandeln uns in eine Familie, die gemeinsam im Wohnzimmer Fernsehen schaut, wobei jeder auf seinen eigenen Bildschirm und das persönlich auf ihn zugeschnittene Programm starrt. Die gute Nachricht lautet: Jeder sieht künftig nur noch, was ihm gefällt. Die schlechte: Jeder sieht tatsächlich nur noch, was ihm gefällt – und hält zwangsläufig das, was ihm vorgespielt wird, früher oder später für die Realität. Mixed Reality, warnt Albers, könne dazu führen, dass sich Einzelne eine „zunehmend individuelle und immer weniger anschlussfähige Welt bauen und das Bedürfnis nach einer intersubjektiv überprüfbaren gemeinsamen Realität verloren geht.“
Das gilt vor allem insofern, als hinter allem die entscheidende (Macht-)Frage steht: Wer steuert die intelligenten Assistenzsysteme, die unseren Bildschirm bespielen? Wenn Mixed Reality unser Fenster zur Welt bildet, werden Algorithmen zu den Programmdirektoren unseres Lebens.Sie definieren, was wir sehen – und damit letztlich auch, was wir fühlen, denken und tun.
Entscheiden
Entscheiden
Was wir gewinnen: Zeit und die Freiheit, Maschinen für uns entscheiden zu lassen (weil wir lernen, dass ihre Entscheidungen häufig besser sind als unsere)
Was wir verlieren: Die Fähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen
„Erstmals in der Geschichte ist unsere Umwelt voller digitaler Wesen, die schneller lernen und sich schneller entwickeln als wir selbst. Bislang konnte sich der Mensch als evolutionärer Überflieger fühlen, in der Intelligenz-Revolution aber wird er ausgestochen. Gegen die Lerngeschwindigkeit der Maschinen hat er nicht die geringste Chance.“ Christoph Kucklick, „Die granulare Gesellschaft“
Auf Jan-Niklas Keltsch, der in Cambridge einige Jahre Technology Management studiert hatte, wirkte der Vortrag „absolut überzeugend“.
Das Besondere: Der Redner war eine Maschine. Erstmals in der Geschichte des Debattierclubs hielt eine Künstliche Intelligenz eine fünfminütige Rede, die zudem komplett eigenständig von ihr verfasst worden war.
„KI hilft uns, signifikant bessere Entscheidungen zu treffen“, sagt der Technologieexperte. „Künftig wird sie uns immer häufiger gleich auch Optionen für Entscheidungen vorschlagen. Und wenn wir es zulassen, wird sie sie auch gleich für uns treffen.“
Klingt weit hergeholt? Nun, etwas Ähnliches haben wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits erlebt. Rund zwei Milliarden Menschen haben in dieser Zeit weitgehend verlernt, selbst nach relevanten Informationen zu suchen. Wer heute Informationen braucht, begibt sich nicht mehr selbst auf die Suche, sondern direkt ins Google-Suchfenster. Sogar die höchst sensible Entscheidung, welche Informationen für uns denn relevant und/oder vertrauenswürdig sind, überlassen wir heute ebenso selbstverständlich wie gedankenlos den von Google-Entwicklern programmierten Algorithmen. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies bei anderen wichtigen Entscheidungen anders sein könnte.
Sich-Verstehen
Sich-Verstehen
Was wir gewinnen: Zahlreiche Gelegenheiten, unterschiedliche Rollen unserer selbst zu kreieren und auszufüllen – und das in rasend schneller Abfolge
Was wir verlieren: Uns selbst. Genauer: das, was wir zu sein glaubten
„So, wie der Buchdruck eine Neufassung des Menschen verlangt hat, tut es auch der Computer.“ Prof. Dirk Baecker, Soziologe, Universität Witten/Herdecke
„Ja, aber nur für kurze Zeit“, lautet die originelle Antwort, die der Autor Vernor Vinge auf diese Frage gegeben hat. Und vermutlich hat er recht. (Die durchaus sinnvolle Diskussion, was „Denken“ und „Intelligenz“ denn meint, lassen wir hier einmal außen vor). Denn mit jeder Generation von Rechnern und Sensoren wächst die Intelligenz der Computer, während der Vorrat an Fähigkeiten, die wir exklusiv dem Menschen vorbehalten wähnten, zwangsläufig schrumpft.
Wenn Algorithmen aber früher oder später intelligenter sind als wir: Welche Rolle bleibt dann noch für den Menschen? Bisher hielten wir uns für den klügsten, reflektiertesten und intellektuellsten Bewohner dieses Planeten. Auf welche Rolle ziehen wir uns zurück, wenn Maschinen schneller denken als wir?
Mit anderen Worten: Wer bin ich?Diese Frage wird künftig noch schwerer zu beantworten sein. Positiv ausgedrückt, gewinnen wir die Freiheit, ganz unterschiedliche Versionen unseres Ichs zu leben.
Kucklicks Schlussfolgerung: Genau so, wie wir im digitalen Zeitalter neue Institutionen benötigen, brauchen wir auch ein neues Selbstbild.
Gesund bleiben
Gesund bleiben
Was wir gewinnen: Präzisere Diagnosen, wirksamere Therapien
Was wir verlieren: Uneingeschränktes Vertrauen in die Fähigkeiten unseres Arztes. Die Hoheit über unsere Körper- und Gesundheitsdaten.
„Technisch ist der Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen bereits heute möglich. Binnen zwei Jahren wird sie uns bei der Früherkennung von Krankheiten und der Auswahl von Behandlungsmöglichkeiten unterstützen. Die Vorteile für Patienten und Gesundheitsversorgung wären gigantisch. Vermutlich wird es aber noch 15 Jahre dauern, bis die regulatorischen Rahmenbedingungen geschaffen sind.“Jan-Niklas Keltsch, Mitgründer Cognitive Services Platform, Deloitte
Das Ergebnis war erschütternd eindeutig: Die Künstliche Intelligenz schlug die Fachärzte um Längen. Nur sieben der 157 Dermatologen analysierten das Hautbild besser als der Algorithmus. Zwar gehört zu einer Krebsdiagnose weit mehr als die reine Entscheidung Muttermal versus Hautkrebs, doch klar ist: Künstliche Intelligenz könnte uns künftig enorm dabei helfen, gesund zu bleiben (oder es wieder zu werden).
Wie wäre es beispielsweise, wenn KI als eine Art Supermediziner mit unbegrenztem Gedächtnis die Diagnosen, Therapien und Behandlungserfolge bei anderen Patienten zur Verfügung stellen würde?Was, wenn jeder Hausarzt auf die Erfahrungen von zig Fachmedizinern weltweit zurückgreifen und seine Therapie anhand Hunderttausender vergleichbarer Fälle anlegen könnte?
Klingt nach Zukunftsmusik? Nun, in Skandinavien trägt ein Viertel der Belegschaft des Reiseveranstalters TUI einen Dauerdatenträger nicht nur auf, sondern sogar unter der Haut. Permanent und freiwillig. Mehr als 110 Mitarbeiter haben sich einen Chip zwischen Daumen und Zeigefinger implantieren lassen, was, wie ein TUI-Kollege versichert, „keine große Sache“ sei. Dabei erfüllt das reiskorngroße Implantat für sie keine lebenswichtigen Aufgaben, sondern dient lediglich zur Identifikation seines Trägers. Die gechippten Mitarbeiter nutzen ihn unter anderem, um die Büro-Eingangstür zu öffnen, in der Kantine zu bezahlen oder ihr Fahrradschloss zu entsperren. Datenschutz? Scheint von dieser Warte aus Lichtjahre entfernt.
Engagieren
Engagieren
Was wir gewinnen: Entspanntheit und Souveränität
Was wir verlieren: Privatsphäre und Datensouveränität (bzw. das, was von ihr übrig ist)
„Der Datenschutz in seiner jetzigen Form ist tot. Seine Annahmen stimmen nicht mehr, seine Kategorien sind hinfällig. Die Daten haben den Schutz aufgelöst.“Christoph Kucklick, „Die granulare Gesellschaft“
Die Flut unserer Datenspuren, die wir tagtäglich off- wie online hinterlassen, hat den Datenschutz längst obsolet gemacht.
Statt den längst verlorenen Kampf um Privatsphäre und Datenkontrolle weiterzuführen, sollten wir daher ganz pragmatisch mit der Tatsache der totalen Transparenz leben lernen. Ein radikales Beispiel bildet das „Post-Privacy“-Konzept des Netzaktivisten Christian Heller, der seinen Tagesablauf, seine Finanzen und viele seiner privatesten Informationen in einem öffentlich einsehbaren Wiki dokumentiert. Motto: Bevor meine Daten von irgendjemandem abgegriffen werden, publiziere ich sie lieber selbst.
Arbeiten
Arbeiten
Was wir gewinnen: Intelligente Werkzeuge, die uns viele öde Arbeiten abnehmen und die verbleibende Arbeit auf ein neues Niveau heben
Was wir verlieren: Ruhe. Konzentration. Kontemplation
„Langsamkeit wird in einer Zeit der totalen Beschleunigung zum Luxus, und das Gute dabei ist: Wir alle können uns diesen Luxus leisten, wenn wir uns nur trauen.“ Tim Leberecht, „The Business Romantic“
Mindestens ebenso bedeutsam wie der Verlust mancher Tätigkeiten an die Rechner ist der Einfluss, den die Intelligenz-Revolution auf die uns verbleibenden Aufgaben hat. Mit digitalen Werkzeugen als Kollegen sind im Arbeitsleben ganz andere Qualitäten gefragt als früher. Zusammenfassen lassen sie sich in drei Begriffen: Verantwortung, Achtsamkeit, Kollaboration.
Am augenfälligsten aber ist die Notwendigkeit zur Kollaboration. Für das Computerspiel Grand Theft Auto V beispielsweise haben fünf Jahre lang mehr als 1.000 Designer, Autoren, Ingenieure und Programmierer zusammengearbeitet. Schon heute, erklärt Digitalagenturinhaber Markus Albers, verbrächten Wissensarbeiter rund 85 % ihrer Arbeitszeit mit kollaborativen Tätigkeiten, also dem Abarbeiten ihrer Mails, WhatsApp- oder Asana-Nachrichten. „Das ist eindeutig zu viel, denn damit gehen die Freiräume für Kontemplation und Konzentration verloren.“
Eine der wichtigsten Kompetenzen des Homo Digitalis könnte daher ironischerweise darin liegen, ein Stück weit analog zu bleiben.