Die Eroberung der Parallelwelt
Lesezeit: ca. 15 Min.Die Eroberung der ParallelweltWie digitale Zwillinge unser Denken, Arbeiten und Leben verändern
KAPITEL 2 – Der Charme der Replikanten
KAPITEL 3 – Die Macht der Gewohnheit
KAPITEL 4 – Aufbruch ins Digitale Zweituniversum
KAPITEL 5 – Outro
Vor unseren Augen entsteht parallel zu unserer realen Welt gerade eine virtuelle und nicht minder faszinierende Parallelwelt. Die Rede ist nicht von Gaming-Welten, sondern von „digitalen Zwillingen“, die als Abbilder ihrer analogen Verwandten in einem virtuellen Paralleluniversum existieren. Noch sind es digitale Einzelgänger, die wie einsame Science-Fiction-Figuren in einer ansonsten weitgehend analogen Unternehmensumgebung unterwegs sind.Aber es werden immer mehr. Denn digitale Zwillinge verfügen über eine herausragende Eigenschaft: Mit ihnen können wir unsere Zukunft erkunden.
Wie wird sich das Bauteil, das unser Zulieferer gerade erst entwickelt, in meinen Fertigungsprozess einfügen? Wann wird es in meiner neuen Produktionsstraße voraussichtlich zu einer Störung kommen? An welcher Straßenkreuzung sind Unfälle zu erwarten? Wie lange hält mein Herz? Wann muss ich mit einem Herzinfarkt rechnen? Und noch viel wichtiger: Wie lange werde ich leben? Und woran werde ich eines Tages sterben?
All diese Fragen können digitale Zwillinge beantworten – wenn nicht bereits heute, dann in der Zukunft.Und weil das so ist, sind sie die Zukunft. Höchste Zeit also, sich genauer damit zu beschäftigen und erst einmal zu verstehen: Was sind digitale Zwillinge überhaupt?
Kapitel 1 – Virtuelle Vorboten
Kapitel 1 – Virtuelle Vorboten
„Ein digitaler Zwilling ist eine von einem Mastermodell abgeleitete Instanz, die ein Realobjekt repräsentiert. Digitale Zwillinge können CAD-Modelle, aber auch Verhaltensmodelle oder Datensätze sein, die während des Betriebs gesammelt wurden. Manche sehen in digitalen Zwillingen sogar eine bidirektionale Schnittstelle, über die Maschinen gesteuert werden können.“Jonathan Masior, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
Vereinfacht ausgedrückt ist ein digitaler Zwilling ein dynamischer Wachsabdruck eines real existierenden Produkts oder Prozesses. Das Rohmaterial, aus dem solche digitalen Spiegelbilder geformt werden, sind Daten. Im Idealfall ist die Datenbasis so präzise und umfangreich, dass der Zwilling sein Urbild in seinen relevanten Eigenschaften originalgetreu und in Echtzeit spiegelt.General Electric beispielsweise setzt bereits heute die Digital Twin-Technologie für 800.000 industrielle Anlagen in aller Welt ein. Der Tech-Konzern animiert unter anderem Flugzeugtriebwerke, Windenergieanlagen und ganze Kraftwerke.
Entscheidend ist:Digitale Zwillinge sind mehr als bloße virtuelle Abbilder, sondern dreidimensionale, lebendige Repliken des Originalgegenstands oder –prozesses. Genau wie menschliche Zwillinge sehen sie nicht nur aus wie ihre Geschwister, sondern reagieren und verhalten sich auch gleich. Digitale und reale Zwillinge haben eine gemeinsame DNA und dieselben Charakteristika. Das macht sie so wertvoll. Denn mit ihnen lässt sich die reale Welt da draußen – und selbst jene, die erst im Entstehen ist – digital durchspielen. Mit ihnen können wir selbst die ferne Zukunft ausprobieren. Welche enormen Möglichkeiten uns dies eröffnet, sehen wir uns anhand von vier beispielhaften Einsatzfeldern an.
„Früher existierten Modelle in den Köpfen von uns Ingenieuren oder wurden in den Werkstätten der Prototypenbauer geformt. Heute wandern sie in die digitale Welt. Und das ist erst der Anfang.“Timmo Sturm, Senior Director Value Service, Dassault Systèmes
Kapitel 2 – Der Charme der Replikanten
Kapitel 2 – Der Charme der Replikanten
Raumfahrt
In keiner Industrie sind solche Fragen mit einer derartigen Unsicherheit verbunden wie in der Raumfahrt. Wer einen Marsroboter baut, hat keine Chance, ihn je unter realen Bedingungen zu testen; wer eine Mondlandefähre auf den Weg schickt, darf sich keine Panne leisten. Die ersten digitalen Zwillinge entstanden daher bei der US-Raumfahrtbehörde NASA, die mit ihnen Roboter in simulierten Atmosphären testete und beispielsweise Luftwiderstand, Kraftstoffverbrennung und Hitzewerte während eines Fluges simulierte.
„Mit digitalen Zwillingen erproben wir unsere Ausrüstung in virtuellen Umgebungen. Erst wenn sie dort all unseren Anforderungen genügt, lassen wir sie tatsächlich fertigen.“John Vickers, NASA National Center for Advanced Research
Architektur
„Ohne eine dreidimensionale Visualisierung kriegt man einen komplexen Bau heute weder vermittelt noch geplant.“Stefan Hausladen, Asplan Architekten
Produktentwicklung
„Die Automobilindustrie entdeckt gerade flächendeckend die Potentiale digitaler Abbilder für sich“, sagt Dr. Markus Junginger, Partner bei MHP Consulting. „Autos gewinnen gerade so viele zusätzliche Funktionen hinzu, dass sie sich gar nicht mehr in einer einzigen Domäne – wie beispielsweise in Form eines realen Prototypen – abbilden lassen. Software und Elektronik folgen nun einmal einer ganz anderen Logik als Hardware. Aus diesem Grund kommen jetzt ganz automatisch vermehrt digitale Zwillinge ins Spiel.“Aber auch beim fertigen Fahrzeug könnten digitale Zwillinge künftig eine Rolle spielen. Dann nämlich, wenn sich Kaufinteressenten ihr Wunschfahrzeug digital konfigurieren und per App oder beim Händler in einer digitalen Probefahrt austesten. Ausstattungsmerkmale könnten auf diesen virtuellen Testfahrten genauso simuliert werden wie Wetterverhältnisse und Fahrmanöver.
Produktionsprozesse
Bei der Homag Group AG im schwäbischen Schopfloch, Weltmarktführer im Bereich Holzbearbeitungsmaschinen, setzt man daher bereits seit drei Jahren verstärkt auf den Einsatz von digitalen Zwillingen.Wenn Homag Holzbearbeitungsanlagen für seine Kunden konzipiert, werden parallel alle Maschinenkomponenten dreidimensional nachgebildet, Materialflüsse und Fertigungsprozesse in Echtzeit durchsimuliert und potentielle Fehlerquellen ausgemacht. „Anlagen werden heute immer größer, komplexer und individualisierter“, so Clemens Häffelin, Teamleiter für Virtual Commissioning bei Homag. „Gleichzeitig sollen sie möglichst personal- und wartungsarm laufen. An digitalen Zwillingen führt daher selbst für Mittelständler kein Weg mehr vorbei.“
Die Vorteile liegen ja auch auf der Hand:Mithilfe virtueller Replikanten können Anlagen präziser geplant, schneller installiert und wartungsärmer betrieben werden. Während die Fertigungsstraße gerade erst in der Fabrikhalle montiert wird, können Mitarbeiter bereits am digitalen Zwilling geschult werden – und sind bereits ab Tag 1 des Realbetriebs bestens mit der Maschine vertraut. Die unausweichlichen Softwareupdates wiederum lassen sich zunächst am digitalen Zwilling erproben. Am realen Zwilling werden sie erst dann installiert, wenn sie sich als fehlerfrei erwiesen haben. Der große Charme der digitalen Zwillinge liegt aber darin, dass sie sich als Zeitmaschinen nutzen lassen. Man kann mit ihnen komplette Fertigungsprozesse beliebig „vorspulen“ und schauen, wann welche Komponenten gewartet oder ausgetauscht werden müssen. Die so genannte „prädiktive Wartung“ vermeidet teure Stillstandszeiten und Produktionsausfälle. Kommt es doch zu einem Problem, hilft der digitale Zwilling bei der Fehleranalyse: Man spult zurück und sucht im digitalen Abbild systematisch nach der Fehlerquelle. Mithilfe einer Virtual Reality-Brille können Servicetechniker den digitalen Zwilling inspizieren, Änderungen vornehmen und testen.
„Digitale Zwillinge eröffnen unseren Kunden faszinierende Möglichkeiten, Innovationen quasi live zu erproben. Hersteller und Anwender können mit ihnen das Design und die Anwendung vieler industrieller Anlagen – vor allem in abgelegenen und schwer zu erreichenden Gegenden – erproben.“Tanja Rückert, President IoT and Digital Supply Chain, SAP
Kapitel 3 – Die Macht der Gewohnheit
Kapitel 3 – Die Macht der Gewohnheit
Die potentiellen Effizienzsteigerungen durch digitale Zwillinge sind erheblich. Laut CADFEM liegen sie in der Industrieproduktion bei 70 % weniger Ausfällen dank prädiktiver Wartung, 25 % Kostensenkung, und 35 % geringeren Stillstandszeiten. Unterm Strich sollen digitale Zwillinge ein sattes Plus von 20 % erwirtschaften. Dennoch gibt es heute noch kein einziges Unternehmen in Deutschland, das bei seinen Planungsprozessen vollständig auf digitale Zwillinge setzt.Dafür gibt es drei Gründe:
KostenDie Erstellung eines digitalen Zwillings ist alles andere als trivial, sondern erfordert leistungsstarke Hardware, Software und Kompetenz. Digitale Simulationen lohnen sich daher aktuell erst für Produkte oder Prozesse mit hoher Wertschöpfung.
StrukturenDie meisten digitalen Zwillinge bestehen aus vielen zusammengesetzten digitalen Spiegelbildern. Wer eine Fabrik realitätsgenau digital spiegeln will, muss all ihre Maschinen, Komponenten und Prozesse digital abbilden können, das heißt: er braucht für all diese Faktoren eine ebenso durchgängige wie saubere Datenbasis.
PioniereDie Frage, ob ein Unternehmen durchgehend auf digitale Zwillinge setzen kann, beginnt daher bereits bei seinen Entwicklungspartnern und Zulieferern. Dafür braucht es auf allen Ebenen Planer und Entscheider, die nicht mehr in zweidimensionalen Plänen denken, sondern dreidimensional und dynamisch modellieren. Mit anderen Worten: Die bereit dazu und in der Lage sind, Neuland zu betreten.
„Die verfügbare Technologie ist ihrem Einsatz derzeit um fünf bis zehn Jahre voraus. Für eine derart radikale Veränderung brauchen die meisten Unternehmen einen Generationenwechsel. Und der steht in vielen deutschen Firmen einfach noch aus.“Gianni Di Loreto, Associated Partner, MHP
Kapitel 4 – Aufbruch ins Digitale Zweituniversum
Kapitel 4 – Aufbruch in das digitale ZweituniversumSpannend wird es, wenn wir künftig immer mehr digitale Modelle miteinander vernetzen und in Meta-Modellen komplexe Welten durchspielen können. Die dafür benötigten wachsenden Datenmengen generieren wir teilweise ganz automatisch. Zum einen entstehen heute immer mehr Produkte und Prozesse nicht mehr am Zeichentisch und in der Modellwerkstatt, sondern in digitalen Datenräumen. Immer mehr Produkte sind daher von Beginn an mit einem kompletten Datensatz hinterlegt, aus dem sich digitale Zwillinge formen lassen.
Zum anderen liefert uns die reale Welt immer mehr digitale Rückmeldungen zu den Dingen, die da draußen geschehen. Im Jahr 2020 soll die Zahl der Internet of Things-Endpunkte bereits die 20 Milliarden-Marke übersteigen. 750 Millionen IoT-Spots wird es dann allein in Deutschland geben. Viele dieser Endpunkte – Automobile, Produktionsstraßen, Konsumgüter – übermitteln permanent Daten an ihre digitalen Zwillinge. Aus ihnen wissen wir, wie sich die Dinge entwickeln, ob sie überhaupt noch funktional sind und möglicherweise demnächst gewartet werden müssen.
„Wenn sich digitale Zwillinge mehr und mehr in der Industrie durchsetzen und ihre Einsatzfelder zusehends über Ad hoc-Einsätze hinausgehen, wird die Orchestrierung dieser Zwillinge gigantische Möglichkeiten eröffnen, Geschäftsprozesse noch weiter zu harmonisieren.“David Immerman, Business Analyst PTC
Kapitel 5 – Outro
Kapitel 5 – OutroMit anderen Worten: Wir verfügen über immer mehr Datenbausteine, aus denen wir künftig immer filigranere, vernetztere digitale Welten bauen können. Experten nennen es das „Cybersystem of systems“ – eine Art multikomplexe Parallelwelt, in der sich unterschiedlichste Prozesse, Produkte und Szenarien durchspielen lassen. Das eröffnet eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten. Drei Beispiele:
Autonome MobilitätNoch müssen Hersteller ihre autonomen Fahrzeuge – und deren Steuerungsalgorithmen – aufwendig in der realen Welt erproben. Wenn wir aber künftig ganze Städte mit Fußgängern, Radfahrern und unterschiedlichen Witterungsverhältnissensimulieren können, ließen sich Tests im Datenraum vorziehen.
Künstliche IntelligenzDigitale Zwillinge können künftig als Trainingsanlagen für KI-Anwendungen fungieren und den Rechenaufwand damit erheblich reduzieren. Wenn beispielsweise Produktionsanlagen durch KI aufgewertet werden sollen, muss zuvor der Spielraum für die entsprechenden Algorithmen definiert werden. Mit Einsatz von 3D-Modellen können die Freiheitsgrade ausgetestet und damit die Komplexität der Berechnungen deutlich reduziert werden.
GesundheitsfürsorgeMit dem „Living Heart“ haben Forscher der Stanford University bereits 2017 detailliert simuliert, wie unterschiedliche Arzneimittel auf das menschliche Herz wirken. Noch sind Herzrhythmusstörungen die häufigste Nebenwirkung, die die Zulassung von Herzmedikamenten verhindert. Aber mit dem „Living Heart“, das in der Cloud schlägt, können quasi unbegrenzt viele Medikamente gleichzeitig am Herzen erprobt werden. Kostspielige und ethisch umstrittene Versuche an Tier und Mensch werden damit hinfällig. Absehbar ist, dass auch andere Organe simuliert und im Zusammenspiel mit Medikamenten erprobt werden. Eines Tages könnten Ärzte individuelle Organe ihrer Patienten simulieren. Ähnlich wie bei der prädiktiven Wartung von Maschinen könnten sie ihre Patienten wissen lassen, wann sie mit welchen Komplikationen zu rechnen haben. Gut möglich, dass Mediziner in Zukunft die Wirkung unterschiedlicher Therapien am digitalen Zwilling durchtesten, bevor sie sie ihren Patienten verschreiben. Und nicht ausgeschlossen, dass unser Hausarzt eines Tages einen digitalen Zwilling unseres Körpers anfertigt, mit dem er das Zusammenspiel der Organe, absehbare Verschleißerscheinungen und sogar unseren Tod modellieren kann. Unser digitaler Zwilling würde dann in unserem Auftrag vorleben, was uns erwartet (oder eben nicht – wenn Ärzte präventiv eingreifen). Was vor unseren Augen entsteht, ist also tatsächlich eine digitale Parallelwelt, in der wir Dinge konstruieren, erproben und verbessern können. Eines Tages werden Hersteller genauso viel über ihre Produkte in der Anwendung wissen wie über jene, die gerade erst ihre Produktionsprozesse durchlaufen. Servicetechniker werden anhand digitaler Zwillinge Störungen antizipieren, lange bevor sie in Wirklichkeit auftreten. Städte- und Verkehrsplaner werden die Mobilität in unseren Metropolen filigraner modellieren und dafür sorgen, dass wir sicherer und schneller vorankommen. Die digitale „zweite Welt“ ist also vor allem eines: eine realistische Chance, unsere reale Welt besser zu machen.
„Von der Welt der digitalen Zwillinge entdecken wir heute erst die allerersten vorgelagerten Inseln. Wir fischen gerade ein paar Kokosnüsse aus dem Wasser und gewinnen eine vage Ahnung davon, welch reichhaltige Welt uns hinterm Horizont erwartet. 95 Prozent der Möglichkeiten haben wir überhaupt noch nicht erforscht, geschweige denn: erschlossen.“Timmo Sturm, Senior Director Value Service, Dassault Systèmes
Schon entdeckt?
Fabrik der Unikate
Wird Individualität zum neuen Maßstab für die Industrie der Zukunft? Intelligent vernetzte Prozesse ermöglichen bereits heute die Massenproduktion von Unikaten.
Der Weg vor uns
Wohin die Reise beim autonomen Fahren geht. Eine aktuelle Wegbestimmung für die Jahre 2020 und 2030.
Text:
Harald Willenbrock, Texter und Autor in Hamburg, ist Mitglied der brand eins-Redaktion, Mitgründer und Co-Redaktionsleiter des Outdoor-Magazins WALDEN, Autor bei GEO, A&W, NZZ-Folio und anderen sowie Corporate Texter für Marken wie BMW, Duravit, Porsche und COR.