Quantastisch!
Lesezeit: ca. 15 MinutenQuantastisch!Die Menschheit lernt, mit Elementarteilchen zu rechnen. Google, IBM und Alibaba bauen immer bessere Quantencomputer. Schon in wenigen Jahren sollen sie mit Qubits exponentiell schneller und besser kalkulieren können als heutige Superrechner. Quantensysteme dürften damit die Arbeitswelt in den Bereichen Mobilität, Verkehr und Logistik ebenso wie Produktionsplanung und Materialforschung verändern. Das globale Rennen ist eröffnet.
Ein Designer-Kühlschrank in Ehningen
Ein Designer-Kühlschrank in EhningenIn der Kleinstadt Ehningen bei Stuttgart haben IBM und die Fraunhofer-Gesellschaft mit Tusch und Fanfaren einen spiegelschwarzen Designerkühlschrank enthüllt, mit dem in Zukunft zu rechnen ist: Deutschlands erster, allgemein zugänglicher Quantencomputer, ausgerüstet mit 27 Qubits, aufgebaut vom US-Konzern IBM in einem abgeschirmten großen Kubus mit einer Grundfläche von drei mal drei Metern und einer Höhe von drei Metern, heruntergekühlt mit Helium auf minus 273 Grad.
Sein Name: Q System One. Mit dem eiskalten Superhirn betreibt die Fraunhofer-Gesellschaft jetzt eine Forschungsstation für Quantencomputing. Die ersten Probe- und Praxisprojekte zur Modellierung von Batterien und Brennstoffzellen für Logistik, Energie und Finanzwesen werden bereits mit externen Unternehmen und Forschern durchgerechnet.
IBM hat schon 30 solcher Mega-Rechner am Netz, um die bisher unlösbaren Rechenprobleme der Menschheit zu lösen. Zum Online-Festakt im Juni hatte sich auch Angela Merkel zugeschaltet. Die Kanzlerin hatte den Deal mit angestoßen und gab sich betont angriffslustig. „Wir sind inmitten eines intensiven Wettbewerbs“, sagte Merkel. „Da möchte Deutschland ein wichtiges Wörtchen mitreden.“ Deutschland stehe historisch an der Weltspitze der Quantenforschung und solle das Wunderwerk der Technologie nun für starke wirtschaftliche Anwendungen nutzen. „Der Rest der Welt“, sagt Merkel, „schläft nicht!“Die Bundesregierung hat eine „Roadmap Quantencomputing“ vorgelegt, investiert bis 2025 zwei Milliarden Euro in die Forschung und hat das Quantenkonsortium QUTAC gegründet. Zehn große Industriepartner, von BASF bis Siemens, entwickeln auf unterschiedlichen Technologieplattformen industrierelevante Lösungen.
Wolfhard Sengler, Associated Partner bei MHP, beobachtet die Entwicklung im Quantencomputing. „Deutschland muss aufpassen“, sagt Sengler, „dass es nicht den Anschluss verliert.“ Im Ranking der Quantencomputing-Patente liegen die USA mit 41 Prozent weit vorn. Kanada, Japan und China folgen. Doch Deutschland – das Mutterland der Quantenphysik – hängt mit zwei Prozent aller Patente weit hinterher. „Wir müssen uns“, appelliert Sengler, „sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigen.“ Doch was macht ein Quantencomputer eigentlich anders? Was ist von ihm zu erwarten? Und wie werden die Technologien unsere Welt verändern?
Das Kleinmaleins der Elementarteilchen
Das Kleinmaleins der ElementarteilchenQuantenphysik beschreibt das Betriebssystem der Natur, das rätselhafte Zusammenspiel der Elementarteilchen. Die ersten Erkenntnisse gehen zurück auf die deutschsprachigen Physiker Max Planck und Albert Einstein, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Auf deren Grundlagen entstanden revolutionäre Quantentechnologien: Magnetresonanztomographen, Atomuhren, Kaskadenlaser.
Nun beginnt die Quantenrevolution 2.0. Professor Oliver Ambacher leitet das Fraunhofer-Institut für angewandte Festkörperphysik IAF und das Institut für Nachhaltige Technische Systeme in Freiburg. Für ihn steht fest:
Der Unterschied zu bisherigen Rechnern liegt in der völlig anderen Herangehensweise, die an die Grenzen der Vorstellungskraft geht: Während Bits nur Zustände von null oder eins annehmen, von „An“ oder „Aus“, bilden Qubits durch die Überlagerung ihrer Zustände auch alle Werte dazwischen ab. „Wenn man Qubits miteinander koppelt, können sie nicht nur zwei Zustände annehmen, sondern mehrere:
Bei zwei Qubits sind es schon vier mögliche Zustände, bei drei Qubits bereits acht“, erläutert Ambacher. „Die Rechenleistung eines Quantenprozessors verdoppelt sich im Idealfall mit jedem Qubit, das mit einem Ensemble zusätzlich verschränkt werden kann.“
Qubits schlagen Bits
Qubits schlagen BitsWo heute klassische Bit-Prozessoren nur einen Schritt nach dem anderen berechnen können, simulieren Quantencomputer künftig viele Zustände gleichzeitig. Das macht sie zwar nicht zu Werkzeugen für Big Data, aber für Optimierungen von hochkomplexen Systemen. Bestes Beispiel: Das Navi. Bislang leiten Navigationsgeräte alle Autos auf der gleichen Route um einen Stau herum und verstopfen damit bald weitere Straßen. Quantencomputer dagegen schlagen allen Fahrzeugen die jeweils für sie beste Alternative vor, und zwar in Abhängigkeit von allen anderen Autos.
Die Zahl der weltweit bislang installierten Quantencomputer schätzen Experten auf 50 bis 70. Bisher sind es Prototypen im Evaluationsstadium, die kaum einen Vorsprung vor klassischen Hochleistungsrechnern haben, die aber den Weg in die Zukunft weisen. „Ich gehe davon aus, dass die übernächste Generation von Quantencomputern einen Rechenvorteil bei der Lösung anwendungsrelevanter Fragen zeigen wird“, prognostiziert der Fraunhofer-Forscher. IBM plane für 2024 einen Quantum Gate Computer mit 1.121 supraleitenden Qubits, der dieses Potential schon besitzen könnte. „In fünf Jahren ist die kommerzielle Nutzung möglich“, so Ambacher. Doch nichts davon wird klassische Hochleistungsrechner ersetzen – sie bieten jedoch zusätzliche Skills für hochkomplexe Aufgaben. Zu erwarten ist daher nicht der eine perfekte Quantencomputer, sondern verschiedene Systeme und Prozessoren für verschiedenste Anwendungen.
Staufrei durch die Metropolen
Staufrei durch die MetropolenDie unheimliche Revolution der Quantenphysik beflügelt zunehmend die Visionen von Wissenschaftlern und Managern. Erste Erfolge sind schon zu sehen. Der Volkswagen Konzern verarbeitete bereits 2017 in einem weltweit einmaligen Quantencomputer-Versuch die Fahrdaten von 10.000 Taxen in Peking und konnte den Verkehrsfluss der Megacity tatsächlich verbessern – damals noch virtuell. Während der Technologiekonferenz „WebSummit“ Ende 2019 in Lissabon zeigte VW dann live, dass man Busse schneller durch die Metropole lotsen kann.
Unser Routing-Projekt mit MAN-Bussen war die weltweit erste produktive Anwendung eines Quantenalgorithmus zur Verkehrsoptimierung“, erzählt Florian Neukart, Direktor des Volkswagen Data:Labs in München. „Die Busse wurden in Echtzeit so effizient durch den Verkehr navigiert, dass sie bei jeder Fahrt mehrere Minuten gewonnen haben.“
VW nutzte dabei sogenannte „Annealer“ des kanadischen Quantencomputing-Spezialisten D-Wave mit bis zu 5.000 Qubits, die auf die Lösung von Optimierungsproblemen spezialisiert sind. Auch mit großen Zustelldienstleistern arbeitet der Konzern an der optimalen Aufteilung von Transportkapazitäten und der Ermittlung idealer Abfahrtszeiten und Touren, die je nach Verkehrslage dynamisch berechnet werden. So kann der Einsatz der Transportflotte reduziert werden. Und das ist nicht alles: „Der quantengestützte Algorithmus kann ebenso weitere Faktoren optimieren wie Emissionsausstoß und Unfallwahrscheinlichkeiten – oder alle Kriterien zusammen“, sagt Neukart.
Parallel arbeitet Volkswagen an der Verbesserung seiner Industrieproduktion. In einem Pilotprojekt in der Wolfsburger Lackiererei wurde mit einem Quantenalgorithmus die Zahl der Farbswitches pro Tag minimiert. Auch beim autonomen Fahren sollen die genialen Rechner künftig helfen: Zur Auswertung von Millionen Datensätzen, die durch das „Sehen“ der Fahrzeuge mit Kameras, Radar, Lidar und Ultraschall sowie durch die Reaktionen der Fahrer entstehen, werden unter anderem Algorithmen aus dem Maschinellen Lernen verwendet. „Es dauert sehr lange, einen solchen Algorithmus zu trainieren“, sagt Neukart.
„Quantencomputer könnten den Prozess indirekt beschleunigen. Dabei werden nicht viele Daten schneller prozessiert, sondern die Algorithmen selbst werden schneller besser.“ Volkswagen sei heute auch ein Software-Unternehmen für neue Mobilitätsprodukte, die von Quantencomputern profitieren werden, ebenso wie Großstädte, Zustelldienste oder zukünftig Betreiber selbstfahrender Flotten, so Neukart.
Die Lösung des Batterie-Dilemmas
Die Lösung des Batterie-DilemmasBatterien gelten als ein Nadelöhr der Verkehrswende. Quantencomputer aber können bisherige Technologien revolutionieren, weil sie potenziell in der Lage sind, Eigenschaften von Molekülen verschiedener Materialien vorherzusagen. Die Autoindustrie arbeitet an der Simulation neuer Batterien, wie Lithium-Schwefel-Akkus. Sie sollen die Energiedichte erhöhen und schneller laden können, die Batterien leichter, kleiner und nachhaltiger machen.
„Mit Quantencomputern können wir Materialien bis in die atomare Struktur simulieren, was bisher mit Superrechnern nicht möglich war“, sagt der scheidende CEO bei Bosch, Volkmar Denner. „Daraus werden neue Katalysator-Materialien hervorgehen, die den Einsatz von Edelmetallen etwa in Brennstoffzellen deutlich reduzieren.“Bosch forscht überdies an Quantensensoren, die sich Diamanten zu Nutze machen. Laut Denner sollen sie mindestens 100-mal empfindlicher messen als bisherige Systeme.
Sie könnten Stromflüsse in winzigsten Chips und Schaltungen im Nanometerbereich sichtbar machen, und sie könnten in der neurologischen Diagnostik von Alzheimer, Parkinson und Epilepsie ganz neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Darüber hinaus interessieren sich Autokonzerne zunehmend für Quantenradare, die extrem hohe Auflösungen über Kilometer hinweg und ohne störendes Rauschen liefern. Mit ihrer Hilfe sollen selbstfahrende Autos künftig Gegenstände besser erkennen und leichter zwischen Objekten und einem Fußgänger unterscheiden können. Die Entwicklungskosten für Quantencomputer verschlingen weltweit aktuell Milliardensummen. Ihre Anschaffung und ihr Betrieb dürften allein in Deutschland in den nächsten Jahren einige hundert Millionen Euro kosten. Dennoch dürften sie in die Rechenzentren von Forschungsinstituten, Ministerien und Unternehmen Einzug halten. Fraunhofer-Experten erwarten, dass sich Konzerne, die Wert auf den absoluten Schutz ihrer Daten legen und direkt von der Technologie profitieren, eigene Quantencomputer zulegen. Kleine und mittelständische Unternehmen dürften über die Cloud Zugänge zu Rechenkapazitäten bekommen: Quantencomputing-as-a-Service.
„Wir Forscher müssen jetzt Systeme entwickeln, die anwendungsrelevante Fragestellungen bearbeiten können“, sagt Ambacher, „und von Unternehmen aufgegriffen werden. Die Europäer müssen sich die Frage beantworten, welche Unabhängigkeit sie im Quantencomputing benötigen und wie viel sie bereit sind, dafür zu investieren.“ Die Bundesregierung hat sich schon entschieden: „In fünf bis zehn Jahren muss Deutschland im Verbund mit den europäischen Partnern in der Lage sein, an der Spitze des internationalen Wettbewerbs einen anwendungstauglichen Quantencomputer zu bauen und zu betreiben“, heißt es in ihrer Roadmap. Gefordert wird bis 2025 ein international wettbewerbsfähiger Quantenrechner mit mindestens 100 ansteuerbaren Qubits, skalierbar auf bis zu 500 Qubits.
Antworten auf nie gestellte Fragen
Antworten auf nie gestellte FragenDass Quantencomputer die Welt verändern werden, ist absehbar. Sven Gabor Janszky, einer der renommierten Trendforscher in Deutschland, sieht eine neue Ära heraufdämmern.
Quantencomputing werde dabei nicht nur ein wirtschaftlicher Megatrend, sondern eine globale Machtfrage. Janszkys Denkfabrik „2b AHEAD“ in Leipzig hat voriges Jahr eine Studie zur Zukunft des Quantencomputings vorgestellt. Für ihn ist absehbar, dass Bereiche wie Mobilitätsdienstleistungen und Logistik, Industrieprozesse und Energienetze, Handel, Finanzmärkte und Medizin vor einem Quantensprung stehen.
Es sei keine Sciencefiction mehr, dass von Quantencomputern gesteuerte Robo-Taxi-Flotten die alte Vision staufreier Großstädte erfüllen oder Quantencomputer individualisierte Medikamente für alle ermöglichen. Und das, sagt Janszky, seien nur einige bisher bekannte Möglichkeiten: „In der nächsten Phase mit Millionen verschränkter Qubits werden wir Fragen beantworten, die die Menschen heute noch gar nicht stellen.“
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Intuitives Lernen, Anreizfunktionen, Bonussysteme, 3D-Visualisierungen, User Interfaces. Wie Unternehmen von den Entwicklungen der Gaming-Branche profitieren können.
Der Weg vor uns
Wohin die Reise beim autonomen Fahren geht. Eine aktuelle Wegbestimmung für die Jahre 2020 und 2030.
Autor Sven Heitkamp
Sven Heitkamp, freier Reporter und Texter aus Leipzig. Entdeckt, was Startups Neues tun und lernt, wie Großunternehmen ticken…