Lesezeit: ca. 20 Min.A Blockchain OdysseyWie eine dezentrale, die Welt umspannende Datenbank namens Blockchain die Mobilität von Morgen auf den Kopf stellen könnte.
KAPITEL 2 – Inspiration: Die kühnen Vordenker
KAPITEL 3 – Disruption: Die ehrgeizigen Startups
KAPITEL 4 – Rückblende: Zehn Jahre — von Bitcoin zu Blockchains
So könnte die nicht allzu ferne Zukunft funktionieren: Ein Elektrofahrzeug identifiziert sich an einer Mautstation, und der Betrag wird automatisch vom Guthaben an Bord abgebucht — abhängig von Wochentag und Uhrzeit, dem Gewicht des Wagens und der Zahl seiner Insassen. Als der Pkw wenig später über eine steckerlose Induktions-Ladestation rollt, meldet er sich ohne Zutun des Fahrers an, damit die Park- und Ladegebühren korrekt verrechnet werden.Das Verkehrsleitsystem der Stadt kann autonomen Fahrzeugen in Echtzeit verlässliche Warnungen über einen Unfall an der nächsten Kreuzung senden, während der Wagen seine verschlüsselten Sensordaten in eine Cloud hochlädt, damit die Versicherung die Prämie anhand der tatsächlich gefahrenen Kilometer individuell justieren kann und die Software anderer Pkws dazulernen kann. Beim turnusmäßigen Besuch in der Werkstatt werden die vorgenommenen Wartungsarbeiten und eventuelle Reparaturen samt Identifikationsnummern der Ersatzteile in einem kontinuierlich fortgeschriebenen Logbuch vermerkt, sodass auch Jahre später zweifelsfrei nachprüfbar ist, wer wann wo Hand angelegt hat. Wechselt das Fahrzeug den Besitzer, wird ebenfalls sofort das elektronische Logbuch aktualisiert.
In Ansätzen sind alle diese Transaktionen bereits heute möglich, sofern Kunden die jeweiligen Apps geladen haben und die Anbieter ihre Datenbanken auf dem neusten Stand halten.Doch damit alle diese Prozesse automatisch und quasi wie von Geisterhand ablaufen können, setzen Experten auf eine neue Grundlagentechnologie namens Blockchain bzw. das Prinzip der Distributed Ledger (dezentrales Kassenbuch). Sie soll es Maschinen ermöglichen, wie am Schnürchen miteinander zu kommunizieren, Zugangsberechtigungen zu klären und vor allem weitaus reibungsloser und kosteneffizienter als bisher Handel und Wandel zu treiben.
Doch zuerst ein kurzer Crashkurs in Sachen Blockchain. Berühmt (und in gewissem Umfang auch berüchtigt) ist die Technologie dank der Aufregung um Kryptowährungen, allen voran Bitcoin, der ersten praktischen Umsetzung des Blockchain-Konzeptes.Doch Bitcoin ist nicht gleich Blockchain, und es gibt streng genommen keineswegs nur eine einzige Blockchain, da die Idee in vielen unterschiedlichen Formen und Formaten umgesetzt werden kann.
Kryptowährungen sind, wie der Name andeutet, elektronische Währungen, die kryptografisch verschlüsselt mit einem Klick zwischen Wirtschaftsteilnehmern ausgetauscht werden, auch wenn sich diese noch nie begegnet sind. Da es sie nur im Netz gibt, fehlt allerdings ein traditioneller Mittelsmann wie eine Bank, die bei jeder Transaktion zweifelsfrei feststellen kann, dass ein Betrag tatsächlich von A nach B transferiert und nicht doppelt wertgestellt wird. In der alten Welt müssen beide Parteien einer Bank vertrauen, damit es verlässliche Überweisungen geben kann.Blockchain-Technologie hingegen entfernt den Mittelsmann mit einem direkten oder Peer-to-Peer-Austausch von Werten – etwa 3,50 Euro fürs Parken zu bezahlen – oder jeder anderen Art von Daten, etwa den Kilometerstand eines Wagens an die Versicherung zu senden.Doch wie löst man das Problem, zwischen Unbekannten ad hoc Vertrauen herzustellen? Möglich macht das ein dezentrales Kassenbuch (englisch „Distributed Ledger“), in dem eine bestimmte Anzahl an Transaktionen in digitalen Informations-„Blöcken“ zusammengefasst und verschlüsselt wird.
Da jeder neue Block an die bereits bestehenden Blöcke angehängt wird, entsteht eine fortlaufende Kette („Chain“) – eine Blockchain. Dieses elektronische Kassenbuch ist obendrein redundant in einem dezentralen Netzwerk verteilt, das heißt es lebt in vielen Kopien und nicht auf einem einzigen zentralen Rechner. Deshalb ist es für alle Beteiligten einsehbar und nachprüfbar. Nur wenn die Mehrheit aller Teilnehmer einen Konsens erzielt, dass eine Transaktion legitim ist, wird sie in einem Block der Kette hinzugefügt.Damit sind nachträgliche Manipulationen, um die elektronischen Bücher zu frisieren, bei einem „Distributed Ledger“ schwer bis unmöglich.In der Theorie ist Blockchain also eine transparente, redundant auf vielen verschiedenen Servern gespeicherte Datenbank.
Wenn alles wie geplant funktioniert, können Unternehmen oder Banken Millionen oder Arbeitnehmer in Schwellenländern Kleinbeträge in Sekunden sicher und preiswert ans andere Ende der Stadt oder um die halbe Welt schicken. Möglichen Anwendungen über den Finanzsektor hinaus sind keine Grenzen gesetzt, ob für globale Herstellungsprozesse, in der Sharing Economy, bei Prüfmechanismen wie beim TÜV oder beim autonomen Fahren.Als unendlicher Rechenschieber ist eine Blockchain, das geben Experten zu, keineswegs immer die beste Lösung.Je nach Anwendungsfall macht nicht jede Blockchain Sinn. Ist das Blockchain-Netzwerk beispielsweise für jeden zugänglich bei gleichzeitigen sehr hohen Anforderungen an die Sicherheit, so ist derzeit der Proof-of-Work (PoW) Consensus-Mechanismus, wie ihn die Bitcoin-Blockchain verwendet, die sicherste Variante. Allerdings erfordert der PoW-Mechanismus einen sehr hohen Rechen- und Energieaufwand. Nichtsdestotrotz bieten Blockchains eine praktische und sichere Alternative zu vielen bestehenden Lösungen, die noch zu oft auf Papierdokumente beschränkt sind bzw. aufgrund der Revisionssicherheit und fehlenden Vertrauens zwischen Transaktionspartnern nicht komplett digitalisiert werden können.
Soweit die Vision, mit deren Umsetzung große Unternehmen sowie Hunderte von Start-ups von Silicon Valley bis Stuttgart experimentieren. Die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten haben das Zeug, ganze Märkte umzukrempeln und neue Ökosysteme hervorzubringen.So schätzt das World Economic Forum (WEF), dass bis zum Jahr 2025 ein Zehntel der globalen Wirtschaftsleistung auf Blockchains verbucht werden wird anstatt auf herkömmlichen Bankkonten.
1. Kapitel: Implementierung: Das neugierige Establishment
KAPITEL 1Implementierung: Das neugierige EstablishmentWohl kaum jemand steckt tiefer in der Materie als Chris Ballinger. Nach einem Jahrzehnt als Spitzenmanager eines globalen Autokonzerns ist er jetzt Mitbegründer und CEO der „Mobility Open Blockchain Initiative“ oder MOBI. Im Mai 2018 schlossen sich Dutzende führender Hersteller aus der Automobil-Welt mit großen Zulieferern, Technologie-Unternehmen und Start-ups, Transportbehörden und Verkehrsministerien zu einer globalen Allianz zusammen. MOBI will Ideen anstoßen und Standards schaffen, damit aus einem kreativen Chaos möglichst schnell praktische Anwendungen entstehen.
Ballinger gibt unumwunden zu, dass Blockchain-Technologie im Jahr 2018 noch in den Kinderschuhen steckt und einen weiten Weg vor sich hat.„Sie kann mit wenigen Ausnahmen – etwa bei grenzüberschreitenden Überweisungen – nur wenige Dinge leisten, die mit bestehenden Systemen nicht besser funktionieren. Heutige Blockchains sind sehr langsam und ineffizient, was den Datendurchsatz angeht.“Da jede Transaktion mit den Rechnern aller anderen Teilnehmer abgeglichen und auch in deren Kassenbuch eingetragen werden muss, schaffen Blockchain-Plattformen gerade einmal drei bis zehn Buchungsvorgänge in der Sekunde. Zum Vergleich: Die großen Datenbanken der Kreditkartensysteme Visa und Mastercard kommen auf bis zu 24.000 Transaktionen pro Sekunde (und können theoretisch bis zu 65.000 Transaktionen stemmen). Für zeitnahe Vorgänge wie Maut, e-Ladestationen oder gar den blitzschnellen Informationsaustausch unter autonomen Fahrzeugen ist eine Blockchain-Datenbank also noch lange nicht reif. Auch ist die Sicherheit der Apps, die verschlüsselte Blöcke bzw. Daten beim Nutzer ein- oder auslesen, derzeit ein wunder Punkt.
Doch das ist alles nur eine Frage der Zeit, glaubt Ballinger. „Das Internet war Ende der 80er-Jahre auch nicht sonderlich nützlich. Es brauchte seine Zeit, um sich vom HTTP-Protokoll zum Web und dann zu den großen Diensten von heute zu entwickeln.Diesmal wird es bedeutend schneller gehen, denn Geräte sind bereits im Netz und kommunizieren.Wir verfügen über massive Rechenleistung. Es ist ein Softwareproblem, das sich lösen lässt, weil so viele kluge Köpfe daran arbeiten.“ Dabei macht es jedoch wenig Sinn, erklärt der MOBI-Chef, dass jeder Hersteller hinter verschlossenen Türen diverse Prototypen entwickelt und sie auf ihren praktischen Nutzen auslotet. Das wäre so, wie das Rad immer wieder neu zu erfinden. Gemeinsam lassen sich die Anstrengungen bündeln, Erfahrungen austauschen und im realistischen Einsatz testen. Umso schneller kann ein Ökosystem entstehen, wie es vor ein paar Jahren mit den großen App-Märkten für Smartphones geschah, allen voran dem iTunes Store. Ist die kritische Masse da, lohnt sich die Entwicklungsarbeit.
„Derzeit“, klagt Ballinger, „leiden wir an einem unglaublichen Durcheinander, wenn vernetzte Fahrzeuge, Bezahlsysteme, Transportbehörden und viele andere Anbieter miteinander zuverlässig und sicher kommunizieren wollen.“ Dabei geht es um grundsätzliche Vertrauensfragen einer zunehmend vernetzten Welt: Welches System versteht ein anders System?Wie kann mein Fahrzeug einem anderen Fahrzeug vertrauen, das mich vor einer Gefahr auf der Strecke warnt?Wie kann ich mich darauf verlassen, dass ein Software-Update nicht mit einem Virus infiziert ist?
Das Problem wird nur noch drängender, da die Zahl der vernetzen Geräte im Internet der Dinge rasant wächst, von heute rund 20 Milliarden auf bis zu einer Billion gegen Ende des kommenden Jahrzehnts.„Die Blockchain kann das lösen“, sagt Ballinger, „wenn wir alle Beteiligten an einen Tisch bringen und uns auf Standards einigen.“
Ökonomin Ashley Lannquist, eine weitere MOBI-Mitbegründerin, die das Thema für das World Economic Forum beobachtet, bestätigt: „Da alle Autohersteller an Blockchain forschen, macht es jede Menge Sinn, sich zusammenzutun. Bei so vielen Versuchsballons von Berlin bis San Francisco werden unweigerlich brauchbare Dinge herauskommen.“Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat MOBI einen Ideenwettbewerb namens „Grand Challenge“ ausgeschrieben. Der Name ist absichtlich den ersten Wettrennen für autonome Fahrzeuge entliehen, die DARPA, die legendäre Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums, 2004 und 2005 veranstaltete. Damals versuchten Forscherteams aus aller Welt, mit Sensoren und neuartiger Software gespickte Fahrzeuge selbstständig durch die Mojave-Wüste fahren zu lassen. Das Resultat war durchwachsen, doch die Roboter-Rennen schafften eines: Sie waren die Initialzündung, damit Automobilhersteller und ehrgeizige Programmierer autonome Fahrzeuge innerhalb eines Jahrzehnts zur Realität werden ließen.
Die MOBI Grand Challenge will Ähnliches für Mobilität auf der Blockchain leisten. Wer bis 2021 ein System entwickelt, mit dem sich Fahrzeuge im städtischen Raum besser leiten und lenken lassen, dem winkt ein ansehnliches Kryptowährungs-Preisgeld in Höhe von umgerechnet einer Million Dollar – und die Bewunderung und Aufmerksamkeit der gesamten Branche.Ballingers Gruppe ist keineswegs die einzige Initiative, um möglichst viele Unternehmen und kluge Köpfe zusammenzuführen, den Entwicklungszyklus anzukurbeln und die Technologie marktreif zu machen. Dutzende von Speditionen, Logistikfirmen, Softwarehäuser und Unternehmensberatungen haben sich in der „Blockchain in Transport Alliance“, kurz BiTA, zusammengetan. Seit August 2017 ist die anfangs kleine Gruppe von rund 30 Firmen auf mehr als 3.000 Mitglieder angewachsen und hat nach eigenen Angaben derzeit eine Warteliste mit mehreren tausend Unternehmen.
BiTA will neue Lösungen für die Abwicklung, Verfolgung und Bezahlung von Fracht identifizieren, entwickeln und auf der Straße testen –inklusive sogenannter intelligenter Verträge oder „Smart Contracts“.Dabei sind die Konditionen als ein Stückchen Software in die jeweiligen Transaktionsblöcke eingebettet, sodass etwa die termingerechte Abholung oder unbeschädigte Lieferung automatisch die Rechnungsanweisung auslösen kann.
2. Kapitel: Inspiration: Die kühnen Vordenker
KAPITEL 2 Inspiration: Die kühnen VordenkerWer hautnah erleben will, wie groß die Anziehungskraft einer neuen, noch weitgehend unerprobten Plattform wie Blockchain ist, sollte den Campus der University of California in Berkeley besuchen.
Während immer mehr renommierte US-Hochschulen von Harvard, Columbia und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) an der Ostküste bis zu Stanford im Herzen des Silicon Valley Blockchain-Kurse im Grund- und Hauptstudium anbieten,hat sich an Berkeley seit 2014 ein von der studentischen Basis getriebenes Ökosystem entwickelt, das unter Akademikern und Unternehmen in aller Welt Beachtung findet.Blockchain@Berkeley ist zudem ein gutes Barometer für die Entwicklung des Themas vom Hype zum Hoffnungsträger. 2014 als Bitcoin Association gegründet änderte die Studentenorganisation im Herbst 2016 ihren Namen, um das Etikett der überbewerteten Kryptowährung abzustreifen. Heute gehören der Gruppe knapp 100 Studenten an, von College-Anfängern über MBAs bis zu Jungakademikern, die auch nach ihrer Promotion weiter an dem Thema arbeiten wollen.
„Die Zahl der Interessenten hat in den vergangenen beiden Jahren so geschwankt wie der Bitcoin-Kurs, aber mit der Zeit hat sich eine Gruppe von 80–100 aktiven und engagierten Mitgliedern herausgebildet, denen wirklich an der Technologie gelegen ist und nicht nur daran, mit Bitcoin schnell Geld zu verdienen“, berichtet Anthony DiPrinzio, ein 21 Jahre alter Student der Wirtschaftswissenschaften und derzeit amtierender Leiter der Organisation.Stellvertretend für seine Mitstreiter beschreibt er sein Interesse an Blockchain als eine Mischung aus Altruismus und persönlichem Ehrgeiz: „Es ist eine junge Industrie, in der man sich einen Namen machen und den Grundstein für seine Karriere legen kann. Es gibt nur wenige Experten mit mehrjähriger Erfahrung, also nehmen dich die Leute auch als College-Studenten ernst, wenn man sich das Wissen aneignet. Das öffnet uns in vielen Branchen die Tür.“
Dazu setzt die umtriebige Gruppe gleich an mehreren Fronten an: bei der Weiterbildung, bei der Beratung etablierter Unternehmen und der Ausgründung von Start-ups. Was andernorts die Professoren tun, haben an Berkeley die Studenten in die Hand genommen.Sie haben einen Lehrplan entwickelt, um einen kostenlosen Grundkurs rund um Blockchain zu unterrichten, den seit Herbst 2016 jedes Semester rund 100 Studenten mit einem Schein abschließen. Ein zweiter Kurs für Programmierer geht mehr in die technischen Details. Alle Materialien sind kostenlos im Internet verfügbar und werden von Neugierigen in mehr als 100 Ländern heruntergeladen, oft in die Landessprache übersetzt und teilweise sogar weiterverkauft.
Zu speziellen Themen veranstalten die Studenten alle zwei bis drei Wochen Workshops mit Experten, die um die 50 Teilnehmer nach Berkeley locken und deren Livestreams Hunderte von Zuschauern im Netz folgen.Offene Fragen können Interessenten weit über Kalifornien hinaus in einem Onlineforum mit mehr als 10.000 Mitgliedern diskutieren. Obendrein hat die Universität basierend auf der erfolgreichen Arbeit der Gruppe für ihre Lernplattform edX einen Online-Kurs zu „Blockchain Fundamentals“ entwickelt, der mehr als 40.000 Teilnehmer in aller Welt erreicht.
„Das zeigt, dass wir einen Markennamen aufgebaut haben. Menschen in aller Welt, einschließlich der Akademiker hier an Berkeley, erkennen uns als Experten an. Das gibt es so an keiner anderen Hochschule“,sagt Gloria Zhao, eine Informatikstudentin, die sich um das Bildungsangebot der Gruppe kümmert.
Dieser Respekt hat direkte Auswirkungen auf die praktische Arbeit der Gruppe.So gehen Blockchain-Firmen und große Unternehmen inzwischen Partnerschaften und Beratungsverträge mit den Studenten ein, darunter Airbus, ExxonMobile und Qualcomm. Allein im Herbstsemester 2018 seien mehr als 15 Anfragen von Fortune-500-Firmen bei der Gruppe eingegangen, die sich zu diesem Thema frisches Expertenwissen einkaufen wollen, berichtet Sanil Rajput (20), ein angehender Betriebswirtschaftler, der für externe Beziehungen verantwortlich ist.
„Viele Unternehmen bemerken, dass sie Nachholbedarf haben, um den Effekt von Blockchains auf ihre eigene Industrie abzuschätzen.Am Anfang machten wir uns Sorgen, ob wir anderen Fachleuten das Wasser reichen können, aber in Meetings stellte sich zu unserer Überraschung heraus, dass wir die wahren Experten sind.“ Rajput will dafür sorgen, dass Blockchain@Berkeley sich als „erste Adresse“ etabliert, wenn ein Unternehmen Fragen zum Thema hat. „Sie sollen wissen, dass sie zuerst bei uns anklopfen sollten, denn auch beim Thema Zukunft der Mobilität haben wir Expertise aufgebaut.“
3. Kapitel: Disruption: Die ehrgeizigen Startups
KAPITEL 3Disruption: Die ehrgeizigen StartupsWomit wir beim Thema Neugründungen rund um Blockchain wären. Wie es sich für einen so jungen Markt gehört, in dem Nachwuchs und Serienunternehmer mit unerprobten Technologien experimentieren, herrscht hier relatives Chaos.
Neben herkömmlichem Wagniskapital sammeln viele Start-ups ihr Geld mithilfe sogenannter Initial Coin Offerings (oder ICOs) ein. Bei dieser Methode können individuelle Anleger Kapital in Form verschiedener Kryptowährungen einschießen – mit allen Risiken, die fiktive Nischen-Währungen auf einer Blockchain mit sich bringen.Nach Erhebungen der Marktforscher von CB Insights in New York flossen über diese Kanäle alleine im vierten Quartal 2017 rund 3,2 Milliarden Dollar in Blockchain-Neugründungen.An spannenden bis zuweilen absurden Ideen, die bereits erprobt werden, herrscht kein Mangel.
So hat der Supermarktriese Walmart rund 1,1 Million Artikel in seinem Sortiment auf die Blockchain verlagert, um sie quer durch die Lieferkette besser verfolgen zu können, von der Hühnerkeule bis zum Kopfsalat.Der dänische Schifffahrts-Multi Maersk arbeitet mit IBM zusammen, um sein Container-Tracking über eine Blockchain zu verbessern.Und die Firma Everledger schreibt seit 2014 an einem Diamanten-Logbuch, in dem bislang 2,2 Millionen Edelsteine dokumentiert sind und das Monat für Monat um rund 100.000 weitere Steine wächst. Ein kalifornischer Tech-Unternehmer ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat eine 271 Quadratkilometer große Parzelle in der Wüste Nevadas gekauft, um dort eine utopische Blockchain-Stadt zu bauen.
Der 22 Jahre alte Gründer und CEO des kalifornischen Start-ups AutoComm hofft natürlich, das seine Firma zu den Überlebenden gehört. Auch AutoComm ist aus Berkeleys Blockchain-Gruppe hervorgegangen und ein gutes Beispiel, wie ein dezentrales Logbuch die Verwendung unterschiedlichste Daten schlanker und effizienter machen soll.„Die Mobilitätsbranche ist besonders interessant, weil sie im Vergleich zu anderen Sparten wie etwa Finanzdienstleister noch nicht stark von Blockchain-Ideen durchdrungen ist.Es gibt relativ wenige große Hersteller und deren Partner, deren Systeme sich verlässlich und sicher miteinander austauschen müssen“, erklärt Haskins die Chancen und Herausforderungen. AutoComm entwickelt deshalb eine sichere Rechenumgebung im Fahrzeug, wo alle möglichen Fahrzeugdaten gebündelt und ausgewertet werden können, aber nur die relevanten Einsichten als Teil einer Blockchain nachvollziehbar und verlässlich in die Cloud gelangen. „Moderne Autos sammeln tonnenweise Daten, von Sensoren in Fahrzeugkomponenten bis zum Fahrerverhalten. Da kommen jede Stunde Mega- oder sogar Gigabytes zusammen“, so der Mathematiker.
Er geht die Geschäftsidee als Kostenfrage an. Für einen Hersteller mache es wenig Sinn, diese Datenmengen komplett über ein Funknetz hochzuladen, damit sie in einem Rechenzentrum ausgewertet werden können, beispielsweise, um einen Algorithmus zum autonomen Fahren zu trainieren oder die Risikofaktoren für eine Versicherung zu kalkulieren.„Was wir bauen wollen, würde die Ergebnisse an Bord generieren und nur sie in die Cloud schicken. Damit kann ein Hersteller 75 Prozent seiner Kosten für die Datenübermittlung sparen.“
AutoComm-Mitbegründer Sid Masih hegt außerdem die Hoffnung, dass Blockchain-Technologie – wenn sie erst einmal ausgereift ist – gleich zwei Probleme auf einmal löst:mehr Sicherheit und mehr Datenschutz.
Die Vision, ein Fahrzeug eindeutig und sicher zu identifizieren, und zwar mit einem digitalen Pass, der an seinen Aufgaben buchstäblich wächst, hat andere Startups auf den Plan gerufen. Auch in Deutschland, das Experten als eine der Blockchain-Hochburgen betrachten. Etwa Xain aus Berlin, das im Sommer 2017 unter 120 Neugründungen aus aller Welt den ersten Porsche Innovation Contest gewann.Xains Idee: verschiedene Vorgänge am und im Fahrzeug sicherer und schneller zu machen. Wird ein Wagen Teil einer Blockchain, lässt er sich mit einer App deutlich schneller ver- und entriegeln als bisher möglich, denn der Schließvorgang erfolgt direkt und ohne Umwege über einen Server in der Cloud. So kann ein Fahrzeughalter auch eine zeitlich befristete Zugangsberechtigung für Dritte einrichten — ohne dass zusätzliche Hardware eingebaut werden muss. Ein Kurierdienst etwa könnte unkompliziert den Kofferraum öffnen und eine Lieferung abholen oder deponieren, alles feinteilig dokumentiert. Elektrisches Laden und Parken würden mit einer Blockchain ebenfalls vereinfacht. Angesichts des Potenzials haben beide Firmen in einer Kooperation getestet, welche Anwendungen zur Serienreife taugen.
Für Anja Hendel, die das Porsche Digital Lab in Berlin leitet, ist Xain nur ein Beispiel von vielen, wie die Blockchain-Technologie einen nachhaltigen Effekt auf die Mobilität haben können. In ihrem 20-köpfigen Team in Friedrichshain sind fünf Entwickler mit mehreren Blockchain-Projekten befasst. Ein junges Unternehmen, an dem Porsche Anteile hält, ist Gapless. Wie der Name suggeriert, soll damit die lückenlose Dokumentation von Fahrzeugen möglich werden. Was Eigentümer oder Werkstätten sonst händisch eintragen (oder auch nicht), passiert mit Gapless automatisch und ist obendrein transparent und fälschungssicher festgehalten: jedes Ersatzteil, jede Reparatur, jeder Besitzerwechsel.Als erste Zielgruppe wird Gapless seit März 2018 für wertvolle Sammlerstücke getestet, deren Eigentümer großes Interesse an einer vollständigen Fahrzeughistorie haben. Bislang haben rund 2.000 Nutzer aus dem deutschsprachigen Raum mehr 2.500 Fahrzeuge in das Online-Kassenbuch eingepflegt. Das ist nur der Anfang, denn theoretisch eignet sich die Plattform für jedes Fahrzeug, egal wie alt oder jung oder wertvoll es ist, denn damit ließen sich Werkstatttermine und Rückrufaktionen besser verwalten.
Große Hoffnungen setzen Hersteller wie Porsche auch auf den Effekt von Blockchains auf die Lieferkette. Wenn sich alle Komponenten von der Quelle bis zum fertigen Wagen lückenlos verfolgen lassen, können Fertigung und Qualitätssicherung davon profitieren. Etwa das Leder, das zu einem Sitz verarbeitet wird. Genau das testen Entwickler aus dem Porsche Digital Lab derzeit. “Wenn ich das Leder bis zur einzelnen Kuh zurückverfolgen kann, ist das ein interessanter Ansatz für mehr Nachhaltigkeit”, erklärt Hendel die Idee. “Das dezentrale Modell bietet viele Chancen, um Geschäftsmodelle zu erproben und Märkte zu öffnen, ohne dass man auf einen Mittelsmann angewiesen ist. Das Thema Blockchain hat noch viele Überraschungen parat”, sagt die Digital Lab-Chefin. Die aktuellen Probleme um den breiten Masseneinsatz und das langsame Verarbeitungstempo seien lösbar.“Das ist eine Frage der Zeit. Und vielleicht mit Technologien, die sich aus der Blockchain ergeben, aber die wir noch gar nicht auf dem Schirm haben.”
Kapitel 4: Rückblende
KAPITEL 4Rückblende: Zehn Jahre — von Bitcoin zu BlockchainsAm 31. Oktober 2008 schrieben ein bis heute unbekannter – oder mehrere unbekannte Autoren – unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto Geschichte. An jenem Tag erschien ein neun Seiten langer Aufsatz, in dem ein „Peer-to-Peer-Netzwerk zum elektronischen Bezahlen“ beschrieben wurde.
Ein auf viele Rechner verteiltes System ohne einen zentralen Mittelsmann wie eine Bank, das trotzdem sicher und anonym ist, schwebte dem Autor vor, den Spürnasen bis heute nicht identifizieren konnten. Die virtuelle Währung hieß Bitcoin, und sie hat in den vergangenen zehn Jahren die Fantasie von Technologen und Spekulanten beflügelt, Unternehmen aufhorchen lassen und Aufsichtsbehörden und Finanzämter in Angst und Schrecken versetzt (etwa die Frage, ob Kurssteigerungen wie ein normaler Wechselkurs behandelt oder wie ein Wertpapier-Gewinn besteuert werden sollen).
Während der Preis der mathematisch begrenzten Anzahl von Bitcoins von 2013 bis 2017 steil in die Höhe schoss und seitdem fast drei Viertel seines Wertes wieder verloren hat, haben sich Technologen und Geschäftsleute auf etwas anderes konzentriert:die diesem System zugrundeliegende Datenbank namens Blockchain.Theoretisch kann es unbegrenzt viele Blockchains geben, die jeweils eine eigene Währung besitzen können (aber je nach Anwendungsgebiet nicht müssen).
Zu den derzeit wichtigsten Plattformen jenseits von Bitcoin gehören Ripple, über das große Banken und Unternehmen internationale Zahlungen abwickeln, sowie Ethereum, in dessen Transaktionen nicht nur Beträge, sondern auch kleine Softwareprogramme enthalten sein können, die als intelligente Verträge (Smart Contracts) bezeichnet werden. Dritter im Bunde ist Hyperledger, auf dessen Grundlage viele Unternehmen erste Blockchain-Experimente betreiben.Nur eines ist trotz all der wilden Experimentierfreude auch ein Jahrzehnt später noch nicht entstanden:eine neue, allgemein akzeptierte Währung, mit der Kunden wie Unternehmen schneller, preiswerter und sicherer bezahlen können als sie es heute mit Dollar, Euro und Yuan tun.
MOBI – Mobility Open Blockchain Initiative
MOBI ist eine gemeinnützige Organisation, die mit vorausdenkenden Unternehmen, Regierungen und NGOs zusammenarbeitet, um Mobilitätsdienste effizienter, erschwinglicher, umweltfreundlicher und sicherer zu machen.
Xain
Das Startup plant eine Art Blockchain-Betriebssystem für Autos. Autobesitzer können mit der Technik zum Beispiel anderen Personen befristet Zugang zu ihrem Fahrzeug gestatten.
Fragen und Anregungen
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Text von:
Steffan Heuer